Süddeutsche Zeitung

Volkswagen:Strengere Regeln? Nö!

  • Die EU forderte neue Abgastests auf der Straße. Die wurden auch von den EU-Mitgliedsstaaten beschlossen - allerdings sehr viel milder als von der Kommission gefordert.
  • Gegen diese neuen Regeln stimmte jetzt der Umweltausschuss des Europaparlaments. Nun muss das Plenum entscheiden.

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Vom Brüsseler Büro des VW-Konzerns in der Rue Archimède ist es nicht weit zur EU-Kommission. Man muss nur über die Straße gehen und schon steht man vor dem kreuzförmigen Gebäude namens Berlaymont, wo die mächtigste Behörde Europas ihren Sitz hat. So wie bei jedem Unternehmen nutzen auch die VW-Lobbyisten ihre Repräsentanz in der europäischen Hauptstadt, um Gesetzesvorhaben in die, wie sie meinen, richtige Richtung zu lenken. Und da schätzt man eben kurze Wege. In letzter Zeit aber mussten die Vertreter von Volkswagen eine längere Anreise in Kauf nehmen; denn der VW-Abgasskandal beschäftigt die obersten Ebenen der Europäischen Kommission. Und da reicht es nicht, wenn man einen Lobbyisten über die Straße schickt.

Bereits Ende September bat der Brüsseler Bürochef von VW deshalb um ein "hochrangiges Treffen". Vorstand Herbert Diess reiste dann auch aus Wolfsburg an und traf EU-Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska, die für die Aufklärung des Skandals zuständig ist. Ende November sprach sie auch VW-Chef Matthias Müller. Bei ihrem Treffen in Straßburg erhöhte Bieńkowska den Druck auf Volkswagen. Sie erwarte, dass Kunden in der EU genauso entschädigt würden wie jene in den USA. VW hat inzwischen geantwortet, dass es diesbezüglich keine Pläne gebe. "Ich werde mich vor einem Kommentar hüten, wie europäische Verbraucher diese Entscheidung beurteilen werden", sagt die Kommissarin. Da die Untersuchungen aber laufen und sie immer noch auf Fakten warte, könne sie bislang keine gesetzlichen Auskünfte geben. Nur so viel: Laut EU-Recht haftet jeder Verkäufer für jeden Mangel einer Ware, der zum Zeitpunkt der Lieferung bestand. Nach Ansicht der Kommission ist das Vergehen von Volkswagen also nichts anderes als ein Garantiefall, wenn auch ein besonders schwerer.

Vorschriften stehen wieder auf der Kippe

Nach jahrelanger Lobbyarbeit seitens der Autoindustrie sah es so aus, als ob der Fall VW den Einfluss der Konzerne schmälern könnte. Doch wie stark Europas Autobauer und ihre nationalen Regierungen zusammenhalten, musste die EU-Kommission erst kürzlich wieder erfahren. Es war die Brüsseler Behörde, die neue Abgastests forderte - und zwar nicht mehr im Labor, sondern auf der Straße. Die wurden auch von den EU-Mitgliedsstaaten beschlossen, allerdings sehr viel milder als von der Kommission gefordert. So sollen die Abweichungen bei Schadstofftests auf der Straße gegenüber den Laborwerten fast doppelt so hoch ausfallen dürfen wie von der Brüsseler Behörde vorgeschlagen.

Gegen diese neuen Regeln stimmte jetzt der Umweltausschuss des Europaparlaments. Nun muss das Plenum entscheiden; dort ist die absolute Mehrheit erforderlich. Ursprünglich hatte die EU-Kommission geplant, dass die Straßenmesswerte bei Stickstoffoxiden die vorgeschriebene Grenze von 80 Milligramm pro Kilometer im Vergleich zu den Laborwerten um 60 Prozent überschreiten dürfen. Dies sei ein ehrgeiziger, aber realistischer Plan, hatte die Kommission vor den Verhandlungen immer wieder betont. Nun sehen die neuen Werte aber so aus: Von 2017 an dürfen neue Fahrzeuge einen um 110 Prozent höheren Wert bei Stickstoffoxiden aufweisen. Erst von 2020 an soll die Grenze auf 50 Prozent sinken. Doch nach dem Votum des Umweltausschusses stehen diese Vorschriften nun wieder auf der Kippe.

Wie das EU-Parlament die Verbraucher schützt

Das Europäische Parlament hat seit dem Antritt der EU-Kommission von Jean-Claude Juncker deutlich weniger zu tun - was schlicht daran liegt, dass die Behörde ihre Gesetzesvorhaben spürbar reduziert hat. Umso akribischer können die Parlamentarier die Gesetzestexte prüfen - und nicht zuletzt über Korrekturen dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit sie wahrnimmt. Dass jetzt der Umweltausschuss die neuen EU-Abgas-Richtlinien abgelehnt hat, ist auch in der Sache gerechtfertigt. Zu Recht weisen die Umweltexperten darauf hin, dass angesichts des Betrugsskandals von Volkswagen die bisher vereinbarten Regeln zu lax sind.

Mit dem Veto verhindern sie den nächsten Skandal: Denn nach den hinter verschlossenen Türen ausgehandelten Gesetzen könnte der Abgasausstoß die offiziellen Grenzen weiter um mehr als das Doppelte übersteigen, weil nationale Regierungen zum Schutz ihrer Autoindustrie zahlreiche Ausnahmen durchgesetzt haben. Es ist nicht das erste Mal, dass das Parlament die von nationalen Interessen getriebenen Mitgliedstaaten zurückpfeift zugunsten von Verbraucherrechten. Das war im Jahr 2010 beim Datenschutz so, als die Volksvertreter das Swift-Abkommen mit den USA zur Weitergabe von Bankdaten kippten, das die Innenminister zuvor hart verhandelt hatten. US-Regierungsmitglieder reisten nach Straßburg, um sich die bis dato unbekannten europäischen Volksvertreter aus der Nähe anzusehen. Auch bei anderen Vorhaben setzte sich das EU-Parlament durch. Etwa, dass überhaupt begonnen wurde, aufzuklären, wie nationale Regierungen heimischen Unternehmen helfen, Steuervermeidungsschlupflöcher zu nutzen - Stichwort Lux-Leaks.

Oder dass bei der Verabschiedung der Bankenunion vereinbart wurde, dass der Gemeinschaftfonds, aus dem die Abwicklung maroder Banken finanziert werden soll, notfalls an den Finanzmärkten Kredite aufnehmen darf. Das Parlament in Straßburg ist ein wichtiges Korrektiv, um europäische Interessen im Blick zu behalten. Cerstin Gammelin

Wie es aussieht, nimmt der Ärger für VW aus Brüssel so schnell kein Ende. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung ermittelt. Und an diesem Mittwoch entscheiden die Fraktionsvorsitzenden des EU-Parlaments, ob ein Untersuchungsausschuss zum VW-Skandal eingesetzt werden soll. Sollte es eine Einigung geben, könnte das Parlament bereits an diesem Donnerstag darüber abstimmen.

Andere Autobauer versuchen wiederum den VW-Skandal für sich zu nutzen. Opel will sein angekratztes Image aufbessern und künftig Verbrauchs- und CO₂-Werte zusätzlich zur bisherigen Norm mit einem zweiten Wert angeben, der sich näher an Fahrbedingungen im Alltag anlehnt. Die Ereignisse der vergangenen Wochen hätten gezeigt, "wie sehr die Automobilindustrie derzeit im Blickpunkt steht", sagt Opel-Chef Karl-Thomas Neumann mit Blick auf den VW-Skandal. "Es ist nun Zeit, auf Basis dieser Erfahrungen aktiv zu werden." Die derzeitige Diesel-Diskussion bedeute eine Zäsur. Die Welt sei nicht mehr wie zuvor. Es liege in den Händen der Automobilindustrie, "die Wahrnehmung dieser neuen Realität zu verändern".

Um für mehr Transparenz zu sorgen, werde Opel zusätzlich zu dem derzeit gültigen Prüfverfahren für Abgas- und Verbrauchswerte in der Europäischen Union von April an auch Verbrauchswerte angeben, die nach dem neuen WLTP-Verfahren ermittelt wurden. Der Autobauer kommt damit der Politik zuvor: Nach den Plänen der EU soll das derzeitige NEFZ-Prüfsystem 2017 durch das WLTP-Verfahren abgelöst werden. In beiden Fällen werden Autos auf dem Prüfstand untersucht - allerdings soll der neue Testzyklus Werte abbilden, die die Bedingungen im realen Straßenverkehr deutlich besser wiedergeben.

In Brüssel jedenfalls wird man das gerne hören.

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SZ vom 16.12.2015/hgn
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