Volkswagen in Russland:Hochzeit auf der Hebebühne

In Russland Autos herzustellen ist nicht ganz einfach. Volkswagen bekommt das gerade zu spüren - in der Stadt Kaluga, die nicht das Detroit des Ostens werden will.

M. Kuntz

Nach dem zweiten Wodka beim Mittagessen in Kaluga stellt einer am Tisch die Frage, ob es auf russischen Straßen eigentlich ein Tempolimit gibt. Sicher, antwortet jemand, der hier schon länger überlebt hat. Jeder darf nur 120 Stundenkilometer fahren und jeder tut es - selbst in der Stadt. Diese Art von Humor kommt gut an 170 Kilometer außerhalb von Moskau in Kaluga, wo an sich ein kontinental gemäßigtes Klima herrscht. Die Menschen kommen gern schnell vorwärts und verbinden mit dem Auto große Hoffnungen.

Volkswagen in Russland: Volkswagen-Produktion im russischen Kaluga: Rasant wachsendes Geschäft.

Volkswagen-Produktion im russischen Kaluga: Rasant wachsendes Geschäft.

(Foto: Foto: dpa)

Hier entsteht gerade nach St. Petersburg und Togliatti das dritte Zentrum der Autoindustrie in Russland. Hier, wo das Geschäft mit den neuen Autos noch rasant wächst und nicht nur stagniert wie in Westeuropa oder Nordamerika.

Auf der meist vierspurigen Landstraße zwischen Kaluga und Moskau jedenfalls fährt jeder mindestens Tempo 120, wenn er nicht all die schnellen Geländewagen und westlichen Luxuslimousinen aufhalten will. Es ist immer viel los, schließlich führt die Rennstrecke in das neue Detroit von Russland. Volkswagen baut ein Werk. PSA Citroen und Mitsubishi haben Pläne für eine Fabrik vorgestellt. Volvo und Renault kooperieren bei Lastwagen in Kaluga.

Gouverneur Anatoli Artamonow mag den Vergleich mit Detroit nicht. Denn es hat sich bis Osteuropa herumgesprochen, dass Detroit zum Symbol für den Intergang der einst glorreichen amerikanischen Autoindustrie verkommen ist. Immerhin hatte Ford in Detroit sein Modell T vom ersten Fließband der Welt laufen lassen.

150.000 Fahrzeuge pro Jahr

Heute traut sich kaum noch einer auf die Bürgersteige zwischen den teilweise verlassenen und verfallenden Wolkenkratzern. So soll Kaluga nicht werden. Hier wird gebaut im großen Stil. Investoren bringen 2,3 Milliarden Euro mit und schaffen 20.000 Arbeitsplätze. Der Strombedarf verdoppelt sich, was die Stadt selbst eine weitere Milliarde Euro kostet.

Vorsichtshalber setzt die russische Stadt mit 342.000 Einwohnern nicht auf die Autoindustrie allein. Auch andere internationale Unternehmen sind schon da: SAB Miller, Stora Enso Verpackungen, Lafarge Zement, Samsung Elektronik und nicht zuletzt der allgegenwärtige Lebensmittel-Multi Nestlé.

Doch der größte Investor ist Volkswagen. Europas führender Autohersteller hat sich 800 Hektar Grünland gesichert. Auf knapp der Hälfte entsteht eine Autofabrik, welche die Russen jährlich mit 150.000 Fahrzeugen beglücken können wird. Dafür verbaut VW eine halbe Milliarde Euro neben der Bahnlinie von Moskau nach Kiew und dem Friedhof von Kaluga. Neues Leben entsteht. Das geschieht Schritt für Schritt. Autowerke werden nicht wie Modellbahnen erst aufgebaut und dann einfach eingeschaltet. So funktioniert es nicht. Vor allem nicht in einer Gegend, wo 7000 Menschen in einem Turbinenwerk Arbeit fanden oder auch nicht.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum das russische Arbeitrecht die Angestellten begünstigt - und warum nun auf der ganzen Welt VW-Fabriken nach dem Vorbild von Kaluga entstehen sollen.

Hochzeit auf der Hebebühne

Wer Schlendrian nach altsozialistischer Art gewohnt war, der fragt durchaus, ob er sich tatsächlich einen Job bei den pingeligen VW-Managern antun soll - mit Muskelkater und Alkoholverbot. Deshalb werden die neuen VW-Werker in einer Art Orientierungsphase für alle Beteiligten die ersten sechs Monate als Zeitarbeiter bei Adecco beschäftigt und erst dann in die 360.000 Menschen umfassende VW-Großfamilie aufgenommen.

Es gibt noch einen zweiten Grund: Das russische Arbeitsrecht meint es gut mit den Werktätigen und ist streng zu den Unternehmern. Wer drin ist, ist unkündbar. Wer nicht mehr mag, kann nach 14 Tagen gehen. Treue zum Arbeitgeber zählt nicht viel, vor allem im gewerblichen Bereich. Arbeit mit den eigenen Händen an einem Fließband ist nicht besonders angesehen im modernen Russland. Da lockt vor allem ein guter Lohn. Im Durchschnitt 623 Euro beträgt der bei VW seit der jüngsten Lohnerhöhung im Juli - wegen der Inflation.

Knapp über tausend Leute sind schon da, in anderthalb Jahren sollen es drei Mal so viele sein. Vier Mannschaften arbeiten an sieben Wochentagen in zwei Schichten. Jeder Einzelne kommt auf 38 Stunden, bezahlt werden 40. Die Arbeit ist härter als im VW-Stammwerk Wolfsburg, vor allem am Anfang. In Kaluga werden erst einmal Bausätze montiert, dieses Jahr rund 25.000. Da wird noch mit der Hand geschraubt. Es sieht aus wie in einer Werkstatt.

Auf archaische Art werden der Unterbau mit dem Motor und die lackierte Karosserie zusammengefügt - diese sogenannte Hochzeit findet in Kaluga auf der Hebebühne statt. Die Bausätze werden bei VW oder Skoda fertig gebaut und dann in zwei darauf spezialisierten polnischen Werken gefühlvoll zerlegt. In Containern mit jeweils drei großen oder vier kleinen Autos geht es nach Russland - mit der Eisenbahn.

Weltweit tragfähiges Konzept

VW verdient in Russland bereits jetzt Geld, sagt Produktionsvorstand Jochem Heizmann der Süddeutschen Zeitung. Erst mit den Bausätzen, auf die nur wenig Zoll zu zahlen ist, danach vom Jahr 2010 an mit dem Werk. Gebaut werden Montage, Lackiererei und Presswerk, also eine komplette Fabrik. Nach und nach werden auch internationale Zulieferer in Kaluga siedeln und Teile lokal herstellen, die am Anfang noch importiert werden müssen.

Für Heizmann als den Herrn über die 47 VW-Fabriken weltweit ist eines besonders interessant: Die Konzeption von Kaluga lässt sich mehrfach verwenden. In Kaluga könnte noch einmal das selbe Werk neben das zur Zeit im Bau befindliche gestellt werden. Die Fabrik in Indien entsteht nach den selben Plänen, die geplante in Amerika wohl auch. Am Rande einer VW-Party im Moskauer Kaufhaus GUM war sogar zu hören, dass Heizmann am liebsten auch in der Region Asien-Pazifik eine Fabrik nach bewährtem Muster bauen würde. Seinem Ziel, bis zum Jahr 2018 den Weltmarktführer Toyota zu überholen, nähert sich Volkswagen so Schritt für Schritt. Bei der Motormesse in Moskau zeigt VW in diesen Tagen nun zum ersten Mal Autos aus seiner russischen Produktion.

Auf dem Highway zwischen Kaluga und Moskau wird noch eine Weile lang die Hölle los sein. Mindestens bis Ende kommenden Jahres. Denn dann soll der Flughafen von Kaluga wiedereröffnet werden und zwar mit internationalem Standard. Das haben die Russen ihren Investoren versprochen. Solange darf sich, wer nur Beifahrer ist, mindestens zwei Stunden lang die Zeit damit vertreiben, aus dem Seitenfenster furchtsame Blicke auf die vielen Gedenkkreuze am Straßenrand zu werfen. Es werden immer mehr, je näher Moskau kommt.

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