Volkert Ruhe:Vom Verbrecher zum sozialen Unternehmer

Er saß wegen Drogenschmuggels in Santa Fu. Heute macht er jungen Menschen klar, was sie riskieren, wenn sie kriminell werden.

Von Lars Langenau

Es war eine beschissene Kindheit und Jugend damals in dem Kaff am Rande des Harzes. Er und seine jüngste Schwester mussten die Alkohol- und Prügelexzesse des Vaters ertragen. Doch seiner verkorksten Jugend gibt Volkert Ruhe nicht die Schuld daran, dass er kriminell wurde. "Ich hatte aufgrund meiner Vorgeschichte nur eine höhere Wahrscheinlichkeit abzurutschen als Menschen aus wohlbehüteten Familien." Verantwortlich sei er aber trotzdem selbst - "und diese Verantwortung habe ich auch übernommen." 1996 wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt. Knapp acht Jahre davon verbüßte er im Knast, den Großteil in der berüchtigten Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel.

Als er 15 war, überraschte Ruhe seinen Vater dabei, wie er sich an seiner jüngeren Schwester verging. Daraufhin schmiss ihn sein Vater aus der Wohnung. Fast zwei Jahre schlief er in einer verlassenen Gartenlaube, wusch sich in der Regentonne und ging trotzdem jeden Morgen zu seiner Ausbildungsstätte. Doch der Lohn war zu wenig, um davon leben zu können. "Mitte des Monats war ich pleite, hatte Hunger und begann, Lebensmittel zu stehlen." Später klaute er Zigaretten und räumte einen Kiosk aus. "Mit 18 musste ich zum ersten Mal für drei Monate in den Jugendknast."

Der Beitrag der Bürgergesellschaft zur sozialen Gerechtigkeit; Volkert Ruhe

"Meine Kindheit ist nicht der Grund, warum ich kriminell wurde. Ich hatte aufgrund meiner Vorgeschichte nur eine höhere Wahrscheinlichkeit abzurutschen als Menschen aus wohlbehüteten Familien", sagt Volkert Ruhe.

(Foto: Christian Stollwerk)

Ruhe beendete seine Lehre als Landmaschinenmechaniker ohne Abschluss und heuerte mit 20 bei einer Drückerkolonne an. Nach sieben Jahren verließ er "dieses von Lügen, Gewalt und Angst geprägte Klima". Es folgten fast zehn Jahre, in denen er sich nach eigener Aussage abstrampelte, um auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Dann kaufte er eine Autowerkstatt, doch dieselben Leute, die sie ihm verkauft hatten, brachen kurz nach der Eröffnung ein und klauten alle neuen Werkzeuge. "Der Versicherungsschutz war noch nicht gültig. Ich war wieder am Boden."

Abermals pleite, arbeitslos und null Antrieb. Untypisch für ihn, dem Disziplin und Pünktlichkeit eingeprügelt wurden. Als ihn ein Freund zum Urlaub nach Kolumbien einlud, gefiel es ihm da so gut, dass er sich in Südamerika eine Existenz aufbauen wollte. Beim zweiten Besuch brachte ihn ein Freund in Kontakt mit Leuten vom Cali-Kartell, für die er zehn Kilo Kokain, versteckt in einem Koffer, in Blitzgeräten für Fotoapparate, nach Deutschland schmuggelte. Trotz Angst- und Panikattacken. Die Ware sei damals insgesamt rund 600 000 Dollar wert gewesen, sagt er. "Zwei Kilo durfte ich selbst behalten, zusätzlich bekam ich 20 000 Dollar Transporthonorar." Es blieb sein einziger persönlicher Schmuggel, danach suchte er sich Leute für diesen Job. Menschen, die oft selbst in einer finanziellen Notlage waren. "Wenn ich darüber heute nachdenke, wird mir klar, wie schäbig das war." Dreieinhalb Jahre organisierte er die Kuriere und Klein-Dealer für den deutschen Markt. Zu dieser Zeit jedoch hatte er kein schlechtes Gewissen wegen der Drogen. "Koks war für mich etwas, dass sich Yuppies in die Nase zogen, um Party zu machen, sonst nichts. Was diese Drogen mit den Menschen machen, was mit dem Zeug auf dem Weg nach Deutschland passiert, wie viele Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden und an ihrer Abhängigkeit zugrunde gehen - all das wurde mir erst viel später bewusst." Mehrfach kam er in brenzlige Situationen. Einmal hatte er eine Pistole am Kopf, als einer seiner Leute mit einem Koffer voller Koks verschwand. "Ich wusste, dass ich tot bin, wenn ich die falsche Antwort gebe." Die kolumbianischen Drogenbarone ließen ihn leben - mit der Auflage, für den Schaden gerade zu stehen. Das bedeutete, dass er die nächsten Transporte umsonst machen musste. "Erst da wurde mir bewusst, in welcher Scheiße ich steckte."

Gefangene helfen Jugendlichen

Seit Volkert Ruhe 2001 mit drei Mitstreitern das Projekt "Gefangene helfen Jugendlichen" (GHJ), gründete, sind die Aufgaben des Vereins gewachsen. Am Anfang stand die persönliche Begegnung von Ex-Häftlingen mit Jugendlichen, die selbst schon einmal mit Polizei und Justiz in Berührung geraten waren, im Vordergrund. Bei diesen Jugendlichen geht es vor allem darum, dass sie nicht noch weiter abstürzen, und um Unterstützung bei der Resozialisierung. Bei anderen Heranwachsenden hat das Projekt rein präventiven Charakter. Es kommen nie ganze Schulklassen in die JVA, sondern nur speziell ausgewählte Jugendliche, maximal zwölf. Oder aber Ruhe und seine Mitstreiter besuchen Schulen. Inzwischen bietet der Verein mit Sitz in Hamburg auch Antigewalt- und Deeskalationstraining sowie pädagogisches Boxen an, er klärt über Cybermobbing auf und organisiert Gespräche mit ehemaligen Suchtkranken. GHJ ist vor allem in Norddeutschland verbreitet, mit Ablegern in Hannover, Bremen und neuerdings auch in Nordrhein-Westfalen. Ruhe führt den Erfolg des Projekts auf Kontinuität, die persönliche Überzeugung seiner Mitarbeiter und die positiven Rückmeldungen der jugendlichen Teilnehmer zurück. "Klar gibt es da auch Leute, die wir nicht erreichen. Aber ich lasse mich davon nicht runterziehen, sondern setze auf die, denen wir helfen konnten." Lars Langenau

Damals aber lebte er ein gutes Leben mit seiner kolumbianischen Freundin, die von seiner Existenz als Krimineller nichts wusste. "Als ich verhaftet wurde, war sie dabei. Meine Lüge war aufgeflogen. Ich schämte mich in Grund und Boden." Ein Jahr brach er den Kontakt zu ihr ab, weil er sie schützen wollte. Doch sie schrieb ihm all die Jahre ins Gefängnis, heute ist sie seine Ehefrau und Mutter seines Sohnes. In Kolumbien fühlte er sich sicher, da kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland bestand. Doch zwei seiner Leute flogen auf und sagten als Kronzeugen gegen ihn aus. Bei einem Ausflug nach Panama schlugen die Ermittler von Interpol zu. Ruhe war 40, als er verhaftet, zu der langen Haftstrafe verurteilt wurde und nach Santa Fu kam. Besonders die ersten Monate seien hart gewesen: Seine Psyche spielte verrückt. Dann gewöhnte er sich an die Realität hinter Gittern, ging "den Psychopathen und Gewalttätern" aus dem Weg, übernahm viele Zusatzaufgaben, "um nicht ständig ins Grübeln zu kommen" - und machte im Knast einen Schulabschluss und begann ein Fernstudium.

"Der Knast hat mich nicht zum schlechten Menschen gemacht, sondern brachte die guten Seiten in mir zum Vorschein", sagt er. Eines Tages sei er auf einen Zeitungsartikel über ein Projekt in den USA gestoßen, bei dem jugendliche Straftäter zu einem eintägigen Knastbesuch verdonnert wurden. Von dieser Schocktherapie hielt er nichts, doch es entstand dabei die Idee, dass Jugendliche freiwillig ins Gefängnis kommen und ins Nachdenken kommen. Gegen viele Widerstände, aber mit dem Segen der Gefängnisleitung, entwickelte er die Idee mit drei Mitstreitern zum Projekt. Als dann im Mai 1999 zum ersten Mal eine Gruppe Jugendlicher erschien, saßen ihm Menschen gegenüber, die ihn nicht als Verbrecher sahen, sondern als jemanden, der ihnen helfen konnte. "Erstmals in meinem Leben hatte ich das Gefühl, gebraucht zu werden - ein verdammt gutes Gefühl."

2001 wurde Ruhe Freigänger und gründete den Verein "Gefangene helfen Jugendlichen". Eine Idee, die Schule machte: Der Verein bekommt heute Zulauf von zahlreichen Behörden, etwa 40 freien Trägern sowie etwa 100 Schulen. "Inzwischen hat unsere Initiative wegen unseres Erfolgs bei der Kriminalprävention viele Preise bekommen und wurde sogar von Angela Merkel geehrt." Seither bezieht er von seinem Verein sogar ein Gehalt: 1700 Euro brutto im Monat. Soeben hat er ein Buch über seine Geschichte veröffentlicht. Darin schildert er die flüchtige Begegnung mit einem ziemlich verlotterten jungen Mann. Ihn berührte dieser Kontakt, denn der Typ erinnerte ihn an jemanden. An ihn selbst in diesem Alter. "Da verstand ich plötzlich, warum ich mich um all die Jugendlichen und ihr tristes Leben kümmere. Es geht dabei nicht zuletzt auch um die Verarbeitung meines eigenen Lebens."

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