Virtuelle Realität am Arbeitsplatz:Die Scheu vor der Brille

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Bitte hier anschrauben: Erweiterte Realität kann wie hier in der Experimentierwerkstatt von BMW helfen, Montagearbeiten zu erledigen. (Foto: BMW)

Einige Unternehmen experimentieren mit erweiterter und virtueller Realität, die meisten aber haben noch keine Ahnung, ob und wie sie die Technik bei sich einsetzen können.

Von David Kost, München

Grün und etwas flackernd sitzt der Abgaskrümmer auf dem halbfertigen Motorblock. In Wirklichkeit ist er gar nicht da, nur wer eine spezielle Brille trägt, kann ihn sehen. Das virtuelle Bauteil zeigt exakt die Stelle, an der das reale Pendant auf den Motorblock geschraubt werden müsste. Ein eingeblendeter Bogen aus kleinen Kreisen weist den Weg zum entsprechenden Metallstück im Regal, rot blinkende Pfeile zeigen an, wo die Schrauben angesetzt werden müssen.

Die Übungsräume der Produktionsakademie im Norden von München, wo der BMW-Konzern mit dieser und anderen neuen Technologien experimentiert, sehen mit ihrer Einrichtung her aus wie eine Mischung aus Mitmach-Museum und Werkshalle. In der Mitte stehen die halbfertigen Motorblöcke, dahinter Regale mit Bauteilen, von der Decke baumeln Akkuschrauber. So lässt sich zwar nur ein Ausschnitt des Herstellungsprozesses nachbauen, doch das reicht. "An dieser Stelle geht es nicht darum die Mitarbeiter zu schulen, sondern wir richten uns an Führungskräfte und Spezialisten, deren Aufgabe es ist, die Arbeitsschritte in einem bestimmten Bereich zu optimieren", sagt Projektleiter Tobias Stäudel.

Wie lässt sich der Arbeitsplatz effizienter gestalten? Was macht der Monteur, wenn im Montageprozess die Kiste mit den Anbauteilen leer wird? Bei Fragen wie diesen können Techniken helfen, die in jüngerer Zeit viel Aufmerksamkeit bekommen haben: Erweiterte und virtuelle Realität, meist unter ihren englischen Bezeichnungen bekannt: Augmented Realitäty (AR) und Virtual Reality (VR). Bei den Tests mit dem Motorblock und dem Auspuffkrümmer kommt AR-Technik zum Einsatz. In die reale Umgebung werden also am Computer erzeugte Elemente eingeblendet - und zwar in der richtigen Größe und am richtigen Ort.

Oft sind es vermeintliche Kleinigkeiten, an denen die Montagespezialisten ansetzen. "Hier können wir Situationen nachstellen und ausprobieren, was in der laufenden Produktion natürlich nicht so einfach geht", sagt Stäudel. In Dreiergruppen simulieren die Experten den Produktionsablauf, einer trägt die Brille, zwei schauen zu und im Anschluss tauschen sie sich über Verbesserungsmöglichkeiten aus.

"Dabei kann es sein, dass die den Experten aktuelle Praxiserfahrung am Band fehlt, weshalb wir das ganze so real wie möglich simulieren", sagt Carolin Lorber, die als Doktorandin bei BMW an der Entwicklung beteiligt ist. Auch in der Schulung von Mitarbeitern setzt BMW die AR-Brillen stellenweise ein. "Das ist ein sehr individuelles Lernen - wenn ein Mitarbeiter einen Arbeitsschritt nicht auf Anhieb verstanden hat, kann er ihn selbständig wiederholen, ohne dass ein erfahrener Kollege dabeisteht und erklärt", sagt Jürgen Tust, Leiter der Produktionsakademie.

Während bei der erweiterten Realität die Wahrnehmung des Nutzers lediglich ergänzt wird, ersetzt Virtual Reality die visuelle Wahrnehmung des Nutzers komplett. Im Kontakt mit dem Kunden nutzen schon heute einige Unternehmen die Technik im täglichen Einsatz. Autohändler zum Beispiel werden mit VR-Brillen ausgestattet, um Käufern ihr Auto mit Sonderausstattung möglichst realistisch vorführen zu können. Die Kunden sitzen in einem Wagen mit beliebiger Ausstattung, sehen aber die Innenausstattung exakt so, wie sie sie gerne hätten. Der Sportartikelhersteller Adidas arbeitet an einem virtuellen Verkaufsraum, in dem der Käufer mittels der Brillen Schuhmodelle in allen Farben sehen kann. Das Ganze funktioniert auch dann, wenn der Kunden Schuh in die Hand nimmt und dreht und wendet. Im Geschäft müssen dagegen nur einige wenige Musterschuhe vorgehalten werden.

Auch die Autowerkstatt auf dem Land könnte Datenbrillen nutzen

Nette Spielereien für den Verkauf sind das - doch es gibt noch andere Einsatzmöglichkeiten von AR und VR: Designer zum Beispiel können in einer virtuellen Umgebung an einem Modell in Originalgröße arbeiten und das auch aus der Ferne. Oder der Techniker, der den Kopierer reparieren soll: Er braucht keine Anleitung mehr und hat die Hände frei, wenn er Anweisungen direkt ins Sichtfeld auf seiner Augmented-Reality-Brille eingeblendet bekommt. Ist er doch einmal überfragt, überträgt die Kamera seiner Brille womöglich ein Livebild an einen Mitarbeiter der Zentrale, der die Lösung parat hat. Remote Maintenance nennen das Experten. Gerade Firmen, die auf der ganzen Welt Spezialgeräte warten, könnten davon profitieren.

Doch die Technik ist trotz aller guten Ideen und vieler Projekte, bei denen sie zum Einsatz kommt, noch ein ganzes Stück vom Mainstream entfernt. Neugier ja, konkrete Vorstellungen nein. So in etwa lässt sich die Einstellung vieler Unternehmer zu der Technik zusammenfassen, sagt Andreas Gentner: "Die möglichen Szenarien, was man damit machen kann, sind noch nicht allzu bekannt". Der Schwabe ist europaweiter Leiter im Bereich Technologie, Medien und Telekommunikation bei dem Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte. "Besonders wichtig ist es, mit den Firmen herauszuarbeiten, wo in der Nutzung für sie der Mehrwert liegt", sagt Gentner. Für den einen sei das die Produktpräsentation, für den anderen die Herstellung. "Zum Beispiel können Firmen die Zeit für exaktes Abmessen einsparen, wenn die Brille den entsprechenden Punkt millimetergenau anzeigt".

Dabei ist diese Technik nicht nur etwas für die großen Produktionshallen, auch die Autowerkstatt auf dem Land könnte die Brillen nutzen. "Die Hardware spielt eine untergeordnete Rolle bei den Anschaffungskosten", sagt Gentner. Allerdings brauche es für den konkreten Einsatz einen Partner, der die entsprechende Software bereitstellt und Informationen digital so aufbereitet, dass sie im Alltag sinnvoll eingesetzt werden können. "Das müsste in einem solchen Fall der Automobilhersteller machen", sagt Gentner.

Auch steckt nicht in jeder AR- oder VR-Technik die ganz große Revolution, oft entwickelt sie einfach Vorhandenes weiter oder macht es günstiger. "Architekten können Bauprojekte mit AR-Technik in ihre spätere Umgebung virtuell einbauen und sich schon vor Baubeginn vor Ort anschauen", sagt Leif Oppermann. Am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT in Sankt Augustin bei Bonn forscht er zum Thema Mixed und Augmented Reality und entwickelt Konzepte zu deren Umsetzung in der Praxis. Als Vorteil der AR-Technik gegenüber einer herkömmlichen Visualisierung am Computer nennt er zwei Faktoren: Augmented Reality sei günstiger und flexibler.

Oppermann und seine Kollegen haben ein System entwickelt, dass sich auf jedes Auto montieren lässt und in einem ersten Schritt die Umgebung aufnimmt. In einem zweiten Schritt legt es ein virtuelles 3D-Modell des Bauvorhabens über die Aufnahme. Das Ergebnis kann sich dann der Beifahrer des Autos quasi live und an Ort und Stelle auf einer VR-Brille ansehen, wobei sich die Perspektive je nach Position des Autos anpasst und ändert.

Trotz all dieser Möglichkeiten, die Virtual- und Augmented-Reality bieten, wird der Arbeitsalltag der meisten Menschen auch in zehn Jahren wohl kaum von virtueller oder erweiterter Realität dominiert sein. "Ich bin ziemlich sicher, dass wir auch in vielen Jahren noch an unserem klassischen Bildschirmarbeitsplatz mit Maus und Tastatur sitzen", sagt auch Oppermann. Trotzdem sei die AR-Technik eine Hilfestellung in einer immer komplexeren Welt und werde bald normal sein. "Deshalb muss man sich da einfach mal herantrauen, um zu erkennen, wie es zum eigenen Business passt."

© SZ vom 27.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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