Virtuelle Hauptversammlungen:Abstimmen vom Sofa

Viele Unternehmen laden in diesem Jahr zu rein virtuellen Haupt­versammlungen ein. In der Folge können viel mehr Anteilseigner mitmachen als in einer Präsenz­veranstaltung.

Von Elisabeth Dostert

Volkswagen - Hauptversammlung

Die Hauptversammlung von Volkswagen im vergangenen Jahr. Und dieses Jahr? Viele Konzerne haben das Aktionärstreffen wegen der Corona-Pandemie erst einmal verschoben.

(Foto: picture alliance/dpa)

Kaum war das Gesetz zur Abmilderung der Covid-19-Pandemie am 27. März im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, preschte Bayer vor. Noch am selben Tag kündigte der Pharma- und Chemie-Konzern aus Leverkusen an, die Hauptversammlung (HV) werde wie geplant am 28. April stattfinden, aber nicht als Präsenzveranstaltung, sondern als reine Online-HV. Mit dem Covid-19-G ändert sich eben auch einiges für Aktionäre. Ulrich Noack, 63, lehrt an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf Aktienrecht. Der Professor beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dem Thema. Schon im Januar 1998 veröffentlichte er dazu unter dem Titel "Im globalen Dorf gehören auch Hauptversammlungen ins Internet" einen Gastbeitrag im Handelsblatt. Noack will sich in diesem Jahr mehrere Aktionärstreffen anschauen. Für die Hauptversammlung von Bayer hat er sich extra noch Aktien zugelegt. Die Versammlung am 28. April wird dann die erste sein, die der Professor sich anhört und ansieht. Vermutlich wird sie in diesem Jahr kürzer ausfallen als in den Vorjahren, wo es heftige Diskussionen gab um die Übernahme des US-Konzerns Monsanto. Die Deutsche Bank will sich Noack auch ansehen. Wenn es die Konzerne erlauben, kann man sich auch Hauptversammlungen anschauen, ohne Aktionär zu sein. Bayer macht das so. Bei der Deutschen Bank ist die Veranstaltung nur für Aktionäre, die brauchen einen Zugangscode. Ein Überblick mit Einschätzungen eines Experten.

Wie lange haben Firmen Zeit, eine virtuelle Hauptversammlung zu veranstalten?

Das ganze Jahr, wenn das Geschäftsjahr dem Kalenderjahr entspricht. Bislang hatten sie acht Monate.

Wie viele Tage im Voraus müssen Firmen zu einer virtuellen HV einladen?

21 Tage, früher waren es einschließlich der Anmeldefrist etwa 36 Tage.

Gelten die neuen Regeln nur für börsennotierte Firmen?

Nein, sie gelten für alle Aktiengesellschaften. Es gibt in Deutschland um die 15 000 Aktiengesellschaften, an der Börse sind nur ein paar Hundert notiert.

Gelten die deutschen Notstandsregeln auch für die Europäische Aktiengesellschaft, die SE?

Ja, mit einer kleinen Einschränkung. Europäische Aktiengesellschaften müssen die Hauptversammlung binnen sechs Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres abhalten. Das ist europäisches Recht, das kann der deutsche Gesetzgeber nicht ändern.

Reicht eine Audioübertragung?

Nein, Bild und Ton, das ist explizit im Gesetz so vorgesehen.

Darf der Veranstalter zwischendurch mal abschalten?

Nein.

Die Hauptversammlung muss komplett übertragen werden von der Eröffnung bis zur Verkündung der Beschlussergebnisse durch den Versammlungsleiter und der Schließung der Hauptversammlung.

Welche Folgen hat es, wenn die Übertragung aufgrund von technischen Problemen des Veranstalters zeitweise unterbrochen wird?

Keine, eine Anfechtung ist bei technischen Störungen nicht möglich. Nur wenn der Vorstand in der Versammlung vorsätzlich den Stecker zieht, etwa weil es ihm unangenehm wird, könnten Aktionäre eine Anfechtungsklage anstrengen.

Müssen alle Vorstände und Aufsichtsräte physisch in einem Raum beisammensitzen?

Nein, das wäre auch wegen der Kontaktsperren und Versammlungsverbote gar nicht möglich. Es reicht, wenn der Vorstandsvorsitzende da ist und vielleicht noch der Notar und der Aufsichtsratschef als Versammlungsleiter, höchstens drei Personen. Alle anderen können zugeschaltet werden.

Müssen die Reden vor der HV online gestellt werden?

Nein, aber sie können. Die Deutsche Bank, beispielsweise, veröffentlicht die Reden acht Tage vorher, sodass die Aktionäre darauf eingehen könnten. Das findet Noack sehr gut, und das sollte ihm zufolge Praxis werden, weil es die eingeengten Fragemöglichkeiten etwas ausgleicht. So bleibt ein gewisser Dialog, eine Reaktion auf das, was der Vorstand sagt, ist möglich.

Was ist mit Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, online die Hauptversammlung zu verfolgen?

Die sind ausgeschlossen.

Am Rande von Hauptversammlungen wie etwa der von Bayer demonstrieren Jahr für Jahr Bienenschützer, Menschenrechtler, Ökobauern, kritische Aktionäre und viele andere. Wie können diese ihren Unmut noch ausdrücken?

Nicht durch Präsenz. Selbst Demonstrationen am Firmensitz dürften wegen der Versammlungsverbote schwierig werden. Sie können ihren Unmut in entsprechenden Online-Foren äußern. Selbst eine Aktie nützt den Kritikern nichts, denn damit können sie nur ihr Stimmrecht ausüben, aber nicht in der virtuellen Versammlung protestieren. Sie können unangenehme Fragen stellen. Aber der Vorstand entscheidet nach seinem Ermessen, welche Fragen er beantwortet.

Müssen sich die Aktionäre zur virtuellen HV anmelden?

Ja, wenn die Satzung das vorsieht, was die meisten tun.

Warum müssen sich Aktionäre überhaupt zu virtuellen HV anmelden? Platzgründe können es nicht sein und für ausreichend Würstchen und Kartoffelsalat muss der Veranstalter dieses Jahr auch nicht sorgen!

Das stimmt, und das sieht Noack auch kritisch. Aber wir befinden uns in einer Ausnahmesituation. Ob die Anmeldepflicht durchzuhalten ist, wird man sehen. Im Covid-19-G ist das nicht geregelt.

Wie können Aktionäre Fragen stellen?

Es gibt zwei Optionen. Die Aktionäre können ihre Fragen bis zu zwei Tage vor der Hauptversammlung auf elektronischem Wege einreichen, dann ist Schluss. Die großen Gesellschaften richten dafür eigens Internetportale ein. Die Fragen können auch per E-Mail gestellt werden. Oder sie stellen Fragen während der Hauptversammlung, "das bieten aber die Gesellschaften, soweit ich das beobachte, nicht an", sagt Noack.

Warum kann das Unternehmen ausschließen, dass noch während der Versammlung Fragen gestellt werden? Technisch sollte das doch kein Problem mehr sein. Selbst in Talkshows und Radiosendungen werden Menschen live zugeschaltet.

Weil sich die Gesellschaften überwiegend für die erste Option entscheiden, das erscheint ihnen einfacher.

Können die Aktionäre auch einen Brief mit ihren Fragen schicken?

Nein. Müssen die Fragen in der virtuellen Hauptversammlung einzeln vorgelesen werden oder darf das Unternehmen sie zu Fragekomplexen bündeln?

Es dürfen Fragenkomplexe gebildet werden. Es gibt keine individuellen Fragen und keine individuellen Antworten. Das ist neu und eine einschneidende Veränderung. Das Problem ist, dass die Aktionäre die Fragen der anderen nicht kennen. Da müsste der Gesetzgeber nachbessern, meint Noack: Die Fragen sollten allen zugänglich sein, nur so kann man doch beurteilen, ob der Vorstand auch auf die Fragen eingegangen ist.

Was können die Aktionäre tun, wenn sie nicht zufrieden mit den Antworten sind oder gar das Gefühl haben, ihre Frage sei gar nicht beantwortet worden?

Im normalen Aktiengesetz gibt es die Möglichkeit, das zu Protokoll des Notars zu rügen und ein Auskunftsverfahren zu erzwingen oder anzufechten. Das sehen die Notregeln nicht vor.

Ist das Auskunftsrecht der Aktionäre in der virtuellen HV im Vergleich zur Präsenzveranstaltung beschränkt?

Ganz klar. Das Auskunftsrecht besteht gar nicht mehr, es gibt nur noch Fragemöglichkeiten.

Ist infolge der Aushebelung des Auskunftsrechts mit einer Klagewelle zu rechnen?

Nein, denn die Kriterien sind schon ziemlich radikal. Die Anfechtung ist so gut wie ausgeschlossen, wenn kein Vorsatz vorliegt und der ist schwer nachzuweisen. Aber es haben zumindest sehr viel mehr Aktionäre die Möglichkeit, eine Anfechtungsklage einzureichen. Nach dem normalen Aktienrecht können das nur Leute, die vor Ort sind, jetzt kann es jeder, der sein Stimmrecht ausübt und Widerspruch erklärt, egal von wo aus. Es gibt mehr Anfechtungsbefugte, aber weniger Anfechtungsgründe.

Wie können Aktionäre ihr Stimmrecht ausüben?

Elektronisch, sie drücken im Internetportal für die Hauptversammlung Ja, Nein oder Enthaltung zum jeweiligen Punkt der Tagesordnung. Oder sie übertragen ihr Stimmrecht einem von der Gesellschaft benannten Vertreter. Das Stimmrecht kann auch schon vor der Hauptversammlung ausgeübt werden, sobald die Seite freigeschaltet ist. Die Gesellschaften konnten die elektronische Stimmrechtsausübung schon vor der Notstandsreglung anbieten, aber da war es freiwillig, jetzt ist es für die virtuelle Hauptversammlung Pflicht.

Wenn die Aktionäre in der Hauptversammlung keine Fragen stellen dürfen, ist sie dann noch sehr viel mehr als ein Theaterstück mit mehr oder weniger gut einstudierten Texten?

Darauf läuft es im Endeffekt hinaus. Das ist aber gar nicht so schlecht, wenn man im Vorfeld für einen guten Prozess der Aktionärsbeteiligung sorgt.

Wie groß ist die Gefahr, dass Unternehmen in diesem Jahr besonders heikle Punkte auf die Tagesordnung stellen, weil sie glauben, in einer virtuellen Veranstaltung leichter damit durchzukommen?

Das glaubt Noack nicht. Man darf nicht übersehen, dass bei der virtuellen HV der Kreis der Adressaten viel größer sein kann. Aktionäre aus der ganzen Welt können zuhören, zusehen und abstimmen, die vielleicht nie zu einer Präsenzveranstaltung angereist wären. Es kann sein, dass viel mehr Aktionäre mitmachen und die Abstimmungsergebnisse schlechter prognostizierbar sind als in einer Präsenzveranstaltung.

Wie lange gilt das Covid-19-G?

Es tritt am 31. Dezember 2021 außer Kraft, aber es ist nur für Hauptversammlung im Jahr 2020 anwendbar. Aber es gibt die Option, es durch eine Ministerial-Verordnung auf 2021 auszuweiten.

Ist das Jahr 2020 der Durchbruch für virtuelle HV?

Schon, wenn man das, was sich in diesem Jahr bewährt, in das normale Aktiengesetz übernimmt. Wichtig ist, dass virtuelle Versammlungen nicht autokratisch durchgezogen werden, sondern aktionärsfreundlich.

Die Aktionärstreffen der Dax-Konzerne

Adidas Termin offen

Allianz 06. Mai virtuell

BASF 18. Juni virtuell

Bayer 28. April virtuell

BMW 14. Mai virtuell

Beiersdorf 29. April virtuell

Continental Termin offen

Covestro Termin offen

Daimler Anfang Juli virtuell

Deutsche Bank 20. Mai virtuell

Deutsche Börse 19. Mai virtuell

Deutsche Lufthansa 05. Mai virtuell

Deutsche Post Termin offen

Deutsche Telekom Termin offen Eon 28. Mai virtuell

Fresenius Medical Care Termin offen

Fresenius Termin offen

Heidelberg Cement 04. Juni virtuell

Henkel Termin offen

Infineon* 20. Februar

Linde** 25. Juli Präsenz

Merck Termin offen

MTU Aero Engines Termin offen

Munich Re 29. April virtuell

RWE Termin offen

SAP 20. Mai virtuell

Siemens* 05. Februar

Volkswagen Termin offen

Vonovia 30. Juni Präsenz

Wirecard 02. Juli virtuell

* Das Geschäftsjahr von Infineon und Siemens beginnt am 1. Oktober, die Hauptversammlungen fanden als Präsenzveranstaltung vor dem Versammlungsverbot statt.

** Die Hauptversammlung von Linde findet in London statt.

Quelle: Eigene Recherchen, Stand 20. April 2020

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