Süddeutsche Zeitung

Virtuelle Realität:Fast wie im richtigen Leben

In der Pandemie müssen Menschen auf Distanz gehen. In künstlichen Welten können sie wenigstens eine Art von Nähe erleben. Die Nachfrage nach solcher Technik ist groß. Ein Besuch in einem virtuellen Konferenzraums der Kölner Firma Blanx.

Von Helmut Martin-Jung, München

Warum nicht Thailand? Das Meer in der Phang-nga-Bucht ist smaragdgrün, und diese Insel da hinten könnte die aus dem James-Bond-Film sein? Beruhigend plätschert Wasser unter dem hölzernen Steg, dann taucht plötzlich ein Ziffernfeld auf. Seine kugelförmigen Tasten schweben, wie von einer magischen Kraft gehalten, einfach in der Luft. Jetzt ist ein Code gefragt, also mit der Hand nacheinander die richtigen vier Kugeln berühren, schon leuchtet es grün auf und man darf eintreten in den Raum.

Raum, einfach nur Raum, so nennt die Kölner Digitalagentur Blanx ihre virtuelle Meeting-Plattform. Denn das smaragdgrüne Meer, die Insel und das Geräusch der Wellen - es ist alles nicht real. Es ist eine virtuelle Welt, erschaffen am Computer. Mit solchen Welten hat Blanx schon lange Erfahrung. Für die Automobilbranche, zum Beispiel, haben sie Filme, nun ja, erzeugt, in denen Autos herumfahren, lange bevor es die Prototypen gibt.

Physische Distanz ist erwünscht, aber keine soziale

Und nun, in der Pandemie, haben sie eine virtuelle Konferenzstätte gebaut, die es erlaubt, sich wenigstens virtuell wieder näherzukommen, wenn es in der Realität schon nicht geht. Oder wie es ein Kunde von Blanx ausdrückt: Man wolle physische Distanz, aber keine soziale. Junge Digitalisierungsexperten von Konzernen, aber auch ergraute Aufsichtsräte und Vorstände gleichermaßen lassen sich auf das Abenteuer ein.

Um den Raum zu betreten, braucht es allerdings etwas Technik. Das Virtual-Reality-Headset sieht aus wie eine Taucherbrille, nur dass die vorne keine Glasscheibe hat, sondern geschlossen ist. Im Inneren steckt ein Bildschirm, auf den man durch zwei Linsen blickt. Zwei Linsen, das heißt dreidimensionales Sehen. Weil jedes Auge ein leicht anderes Bild sieht, kann das Gehirn daraus ein Bild in drei Dimensionen errechnen - ganz wie im realen Leben. Sensoren registrieren jede Bewegung und passen den Bildinhalt ohne merkliche Verzögerung daran an. In die Brille, es handelt sich um ein Gerät der Facebook-Tochter Oculus, sind auch Lautsprecher eingebaut, so dass man keinen zusätzlichen Kopfhörer braucht.

Diese neuere Virtual-Reality-Brille kommt ohne eine Kabelverbindung zu einem Rechner aus, eine gute Wlan-Verbindung ist allerdings Voraussetzung. Auch die Hände werden einbezogen. Die dafür mitgelieferten Controller ähneln denjenigen, mit denen man Spielekonsolen steuert, sind aber kleiner. Damit man sie nicht versehentlich fallenlässt, werden sie mit einer Schlaufe am Handgelenk gesichert.

In der virtuellen Welt kann man zwar im Prinzip überall hinlaufen, doch die meisten Teilnehmer haben keine Halle, in der sie sich bewegen können, sondern sind im Büro oder zu Hause mit nur einigen Quadratmetern Platz. Den richtet man sich bei der ersten Nutzung selbst ein, in dem man mit dem Controller eine virtuelle Grenze zieht. Nähert man sich ihr, erscheint vor den Augen auf grün leuchtendes Gitter.

Wie aber umschifft man das Problem, wenn man weiter weg will? Ganz einfach mit Teleportation. Der Controller erzeugt in der virtuellen Welt eine Art Laserstrahl. Den richtet man dorthin, wohin man will und drückt eine Taste auf dem Controller. Unmittelbar darauf befindet man sich auch schon dort, wo man beim Drücken der Taste mit dem Strahl hingezeigt hat.

Wozu aber nun das alles? Im Raum, gestaltet als modernes Büro mit viel Glas und Beton, können sich Menschen viel näher kommen, als es seit Monaten möglich ist - wenn auch nur als Avatar, als als eine digital geschaffene Figur also. Es gibt einen Vortragssaal mit Präsentationsleinwand, es gibt Whiteboards, Würfel, die sich beschriften und mit den Händen größer und kleiner ziehen und stapeln lassen. Es gibt eine Fläche, auf der das Modell eines neuen Produkts besichtig werden kann. Je nachdem, wie gut die 3D-Daten sind, kann man dabei auch ins Innere sehen - so wie bei dem Sportwagen, den Blanx als Demonstrationsobjekt zeigt. Wie? Man steckt einfach den virtuellen Kopf ins virtuelle Innere, und schon sieht man die Innenausstattung.

Es gibt auch abgetrennte Räume. Schön daran: Schließt man die Tür, ist man akustisch abgekoppelt vom größeren Raum draußen. Wer aber zwanglose Gespräche mit Teilnehmern sucht, begibt sich auf die Terrasse. Meeresblick, sanftes Rauschen im Hintergrund - recht viel besser wird es nicht in der virtuellen Welt. Die wird übrigens mit einer lange bekannten Technologie gestaltet, sogenannten Spiele-Engines. Das ist Software, mit denen die virtuellen Welten in Spielen erschaffen, Monster inklusive.

Der Kopf gewöhnt sich erst langsam an die Technik

Nicht jeder tut sich am Anfang leicht mit der Technik, gibt auch Blanx-Chef Michael Gairing zu, "der Kopf muss sich langsam daran gewöhnen", sagt er. Noch ist der virtuelle Raum in der Beta-Phase, eine Reihe von Kunden ist daran aber schon beteiligt - sie wollten die weitere Entwicklung mit steuern, sagt Gairing. Denn es sei zwar klar, dass ein virtuelles Treffen ein reales niemals ersetzen könne, aber viele Unternehmen planten schon aus Vorsicht damit, auch 2021 allenfalls einen Mix aus realen und virtuellen Treffen anzubieten.

Besonders gut geeignet ist die Technologie logischerweise, wenn es darum geht, neue Produkte wie etwa Autos zu präsentieren. Die müssen dann nicht mehr aufwändig als Modelle gebaut werden, sondern können aus den Konstruktionsdaten virtuell dargestellt werden - aber eben so, dass man um sie herum laufen kann.

Die Qualität der Brillen hat sich in den vergangenen Jahren ebenso verbessert wie ihr Tragekomfort. Und der nächste größere Sprung steht unmittelbar bevor. Die neue Funktechnologie 5G mit ihren extrem kurzen Antwortzeiten wird es erlauben, die Berechnungen, die nötig sind, damit ein Nutzer zum Beispiel den Kopf drehen oder sich in der virtuellen Welt bewegen kann, in die Cloud zu verlagern. Die Brillen wären dann kaum noch mehr als Wiedergabegeräte.

Aktuell muss man noch die virtuellen Welten in die Brille laden, und diese brauchen auch einen leistungsstarken Prozessor, um möglichst verzögerungsfrei auf Bewegungen des Nutzers reagieren zu können. Das alles würde wegfallen, das würde die Brillen auch leichter und damit noch komfortabler zu tragen machen. Und: "Die visuelle Qualität hängt dann nur noch vom Anbieter ab", sagt Gairing.

Doch was ist, wenn die Pandemie einmal überwunden sein wird? Werden sich Deutschbanker und Pharma-Vorstände dann immer noch Headsets aufsetzen? Ja, glaubt Gairing, "im Geschäftsumfeld hat sich das schon durchgesetzt", sagt er, zudem sei die Technik einfach unschlagbar dabei, wenn es darum geht, neue, noch nicht verfügbare Produkte schon mal vorzuführen. "Der Kampf der Plattformen hat auch hier längst begonnen", sagt er.

Eine Plattform, das will auch Gairing mit seiner Agentur werden. An neuen Projekten wird gearbeitet, eine Finanzierungsrunde im Januar soll frisches Geld in die Kassen bringen. Für die Vorweihnachtszeit hatten die Kölner eine virtuelle Weihnachtswelt entwickelt, in der Firmen mit ihren Mitarbeitern wenigstens eine Ahnung von menschlicher Nähe vermitteln konnten.

Noch drückt die Brille und das Bild ist pixelig

Auch wenn es nicht echt ist, die Simulation kommt ihr zuweilen schon nahe, hat Gairing erlebt. Ein Mann stand einmal ganz oben auf einem virtuellen Kran von Liebherr und genoss die Aussicht. Da wurde er von jemandem in der realen Welt versehentlich leicht angerempelt und riss sich erschrocken die Brille vom Gesicht, der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Auch wenn die Brille manchmal drückt, das Bild noch pixelig ist, der Eindruck ist doch viel tiefer, spricht mehr Sinne an als bei einer normalen Präsentation. Der Hype macht nur eine Pause. Das Potenzial des Marktes ist riesig.

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