Süddeutsche Zeitung

Virtual-Reality:Jobsuche im 21. Jahrhundert

  • Die Deutsche Bahn hat Schwierigkeiten, Bewerber für bestimmte Berufe zu finden.
  • Dabei sollen ihnen jetzt sogenannte Virtual-Reality-Brillen helfen.
  • Die Technologie kommt ursprünglich aus dem Computerspiele-Bereich.

Von Vivien Timmler

Vorsichtig setzt Boban Panic einen Fuß auf die glatte, weiße Oberfläche. Noch einmal stützt er sich ab, dann steht er oben. Ganz oben auf dem Dach des ICE 3, eines der schnellsten Züge der Welt. Er wird gerade im Münchner ICE-Werk durchgecheckt, zu Panics Füßen schrauben drei Metallarbeiter am Dach des Zuges herum. Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter. "Lass mich auch mal", quengelt entfernt eine Stimme.

Der 21-Jährige nimmt die schwere Brille ab. Kurz ist ihm schwindelig und er muss sich orientieren. Der ICE ist verschwunden, stattdessen findet er sich auf einem Drehstuhl im Foyer der Deutschen Bahn Zentrale in München wieder. Das Unternehmen veranstaltet hier regelmäßig Karrieretage für Bewerber wie Boban Panic, aber diesmal gibt es eine Besonderheit: Die Bahn stellt ihr neues Virtual-Reality-Konzept vor, von dem sie sich erhofft, in Zukunft mehr Jugendliche für einen der mehr als 500 Berufe im Konzern zu begeistern.

Von der Gamer-Szene in die Personal-Abteilung

Die Bahn ist hierzulande das erste Unternehmen, das die Technologie, die ursprünglich aus der Gamer-Szene kommt, für die Personalgewinnung nutzt. 7000 bis 8000 neue Mitarbeiter braucht das Unternehmen jährlich, aber für eine Handvoll Stellen gibt es einfach keine Bewerber. Das betrifft meist Berufe, die es nur bei der Bahn gibt, wie etwa Wagenmeister, Fahrdienstleiter oder Rangierführer. Trotzdem glaubt man bei der Bahn nicht, dass das an der Unattraktivität der Berufe liegt, im Gegenteil: "Dass wir für diese Schattenberufe niemanden finden, liegt daran, dass sie vor allem bei Schülern unbekannt sind", sagt Florian Wurzer, Leiter der Personalgewinnung im Raum Bayern.

Dazu kommt, dass der Wettbewerb um junge Talente gerade in technischen Berufen immer härter wird. Auch bei der Bahn sei die Kombination aus Fachkräftemangel und demografischem Wandel deutlich zu spüren. Aktuell sind auf der Homepage der Deutschen Bahn gut 2000 offene Stellen verfügbar - eigentlich dürften es laut Wurzer nur 500 bis 1000 sein. Deshalb nun das Virtual-Reality-Konzept.

Und das geht so: Angenommen, ein Bewerber ist auf einen Beruf aufmerksam geworden, unter dem er sich nichts vorstellen kann. Er setzt sich auf einen Drehstuhl und zieht sich eine Virtual-Reality-Brille über den Kopf. Vorne wird ein normales Handy eingeschoben, auf dem eine spezielle App installiert ist. Über diese App bekommt der Bewerber nun einen 360-Grad-Film vorgespielt. Er zeigt einen Arbeitsplatz bei der Bahn, zu dem man sonst keinen Zutritt hat: etwa die Schaltzentrale, die Bahngleise oder eben das ICE-Werk. Indem er seinen Kopf bewegt und mit den Augen bestimmte Punkte fokussiert, kann er steuern, wohin er sich in der virtuellen Welt bewegt. Der Unterschied zu einem normalen Video: Durch die 360-Grad-Ansicht fühlt sich der Nutzer, als würde er sich selbst wirklich an jenem Ort befinden - wie in einem Paralleluniversum.

Plakate und Anzeigen begeistern nicht mehr

Was sich nach Schnickschnack für Technikbegeisterte anhört, ist für die Bahn ein wichtiger Schritt hin zu einem moderneren Image. Gerade junge Auszubildende und Schüler seien über die klassischen Wege kaum noch zu erreichen. "Ein Plakat oder eine Anzeige überzeugt diese Generation einfach nicht mehr", sagt Florian Wurzer. Die Präsenz auf Social-Media-Plattformen werde mittlerweile von Unternehmen schlichtweg erwartet. Was die Bewerber wirklich forderten, seien echte Einblicke hinter die Kulissen.

Für Transportunternehmen wie die Bahn ist das eine Herausforderung. "Wir können unsere ICE nicht eben in eine Messehalle holen. Also müssen wir die Bewerber irgendwie zum ICE bringen", sagt Kerstin Wagner, Chefin der Personalgewinnung des Konzerns. Sie rechnet damit, dass in Zukunft auch andere Unternehmen anfangen werden, die Möglichkeiten von Virtual Reality zu nutzen - schließlich gebe es in allen Branchen schwer zu besetzende Berufe. Ihr Team denkt bereits darüber nach, wie es die "virtuelle Realität" auch nach Hause bringen kann. An den Brillen scheitert es nicht - die sind zwar technisch noch nicht ausgereift, aber immerhin schon für günstige 200 Euro zu haben. Was fehlt, sind geeignete 360-Grad-Filme. Die Bahn hat bislang drei produzieren lassen und plant eine Erweiterung des Repertoires - alle 500 Berufe des Unternehmens wird es aber auch in Zukunft nicht über die Brille zu sehen geben.

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Quelle:
SZ vom 20.10.2015/sry
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