US-Medien:Hype-Medienkonzern Vice hat 96 Prozent an Wert verloren

US-Medien: Ein Bürogebäude des Medienunternehmens in Los Angeles. Innerhalb von zwei Monaten soll Vice verkauft werden.

Ein Bürogebäude des Medienunternehmens in Los Angeles. Innerhalb von zwei Monaten soll Vice verkauft werden.

(Foto: Jae C. Hong/AP)

2017 wurde Vice Media noch mit 5,7 Milliarden Dollar bewertet - weil es unangepassten Journalismus bot und damit viel Geld verdiente. Nun liegt der gebotene Preis nur noch bei 225 Millionen Dollar. Was ist passiert?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Um zu verstehen, wie brutal dieser Absturz ist, sollte man die Fallhöhe kennen. Also dann, Juni 2017: Vice Media, der ultracoole Medienkonzern, nimmt durch eine Finanzierungsrunde 450 Millionen Dollar vom Risikokapitalgeber TPG ein. Bereits in den Jahren davor hatten Entertainment-Giganten wie 21st Century Fox (70 Millionen Dollar im Jahr 2013), A&E Networks (250 Millionen Dollar 2014) und Disney (200 Millionen Dollar 2015) investiert - und warum nicht? Vice bot aufregenden Gonzo-Journalismus über Popkultur (unvergessen die grandiose Doku über das geplatzte Festival "Fyre"), menschliche Abgründe (über Rocksänger Steve Ludwin, der sich Schlangengift injiziert; oder ein Interview mit Kannibalen in Sibirien) bis hin zu Reportagen aus Nordkorea und Liberia.

Es war Journalismus am Limit - und noch mehr. Die Verantwortlichen schienen kapiert zu haben, wie man digital Geld mit Journalismus verdienen kann; nämlich: Aufmerksamkeit um jeden Preis mit Formaten, die sich auf sozialen Netzwerken verbreiteten; die Erlöse kamen vor allem über Werbeeinnahmen, die in den Zehnerjahren von Print und TV zu digitalen Konzernen gewandert waren. 2012 lag der Umsatz bei 175 Millionen Dollar, der Gewinn bei 40 Millionen. Der Aufstieg von Vice, 1994 im kanadischen Montreal als Punk-Magazin gegründet, war raketenhaft; das TPG-Investment 2017 katapultierte das Unternehmen in Einhorn-Sphären. Mit 5,7 Milliarden Dollar wurde das Unternehmen dadurch bewertet, das ist: dem Himmel sehr nah, und die Frage war nur, ob Vice an einen Konzern wie Disney (bot 2015 mehr als drei Milliarden Dollar) verkauft werden oder an die Börse gehen würde.

Schulden in Höhe von 834 Millionen Dollar

Nun hat Vice Gläubigerschutz beantragt und soll innerhalb von zwei Monaten verkauft werden. Kaufpreis, sollte kein höheres Angebot eingehen: 225 Millionen Dollar; nicht mal vier Prozent der 2017er-Bewertung. Was für ein Absturz, und es ist noch schlimmer: Das Angebot ist ein "Credit Bid"; das bedeutet, dass ein Konglomerat aus Fortress Investment Group, Soros Fund Management und Monroe Capital einen Kredit in dieser Höhe nicht zurückfordert, sondern dafür den Großteil der Firma übernehmen will. Bedeutet: Das Einhorn ist auf die Erde geknallt, nun geht es auch um die Verteilung des Kadavers, zu dem unter anderem eine Film- und TV-Produktionsfirma gehört, eine Marketingagentur sowie Refinery29; ein Lifestyle-Portal, das sich an junge Frauen richtet.

Laut Gerichtsakten, die der SZ vorliegen, hat Vice Schulden in Höhe von 834 Millionen Dollar. "Der Verkauf wird den Konzern stärken und ihn gut für langfristiges Wachstum aufstellen", heißt es in einem gemeinsamen Statement von Hozefa Lokhandwala und Bruce Dixon, seit Februar Co-Chefs von Vice. Davor hatte Nancy Dubuc, 2018 von A&E Networks gekommen, immer wieder versucht, Vice profitabel zu machen oder für wenigstens mehr als eine Milliarde Dollar zu verkaufen - beides ohne Erfolg.

Zwei Probleme machten Vice in den vergangenen Jahren zu schaffen. Erstens: Es ist in Zeiten, in denen beinahe jeder Mensch mit Handykamera und Internetzugang etwas publizieren kann, gar nicht so einfach und vor allem nicht billig, Storys für größtmögliche Aufmerksamkeit zu erstellen. Selbst wenn es einem gelingt, ist Aufmerksamkeit heutzutage nicht unbedingt gleichbedeutend mit hohen Umsätzen. "Der Werbemarkt ist kniffliger geworden; das stellt digitale News-Plattformen vor Probleme", sagt Medien-Professorin Megan Duncan von der Virginia Tech. Soziale Netzwerke haben ihre Algorithmen angepasst, wodurch Reichweite und Erlöse schwieriger zu erreichen seien. Wer fast nur von Werbeumsätzen lebe, gerate rasch in rote Zahlen.

Investoren haben ihr Vertrauen in die Marke verloren

Diese Entwicklung macht auch anderen Firmen zu schaffen wie etwa Buzzfeed, das kürzlich die Pulitzer-gekrönte Sparte Buzzfeed News einstellte. Vergangene Woche teilte Paramount Media mit, das legendäre Popkultur-Programm MTV News nicht fortzuführen. Vox Media gliederte Mitte April die politische Social-Media-Sparte Now This aus, die es erst 2021 gekauft hatte. Sie wurde bei einer Finanzierungsrunde im Februar mit 500 Millionen Dollar bewertet - der Hälfte des Wertes von 2015.

Das zweite Problem von Vice: die Firmenkultur, wie bei vielen Start-ups in der Höhenflug-Phase. Ein paar Monate nach der 5,7-Milliarden-Dollar-Bewertung veröffentlichten die New York Times und andere Medien Geschichten über sexuelle Belästigung bei Vice. Co-Gründer Shane Smith, aufgrund seiner Ich-Reportagen aus Krisen- und Kriegsgebieten auch das Gesicht von Vice, trat als Chef zurück und holte Dubuc; vereinfacht gesagt passierte bei Vice, was bei so vielen Firmen mit astronomischen Bewertungen passiert: Wer sich für unantastbar hält, verliert die Bodenhaftung - und berührt irgendwann auch keinen Boden mehr.

Anfang dieses Jahres wurde klar, wie schlecht es um Vice steht: Dubuc fand nicht einmal für ein Sechstel der 2017er-Bewertung einen Käufer; selbst Firmen, die bereits dreistellige Millionenbeträge investiert hatten, winkten ab und schrieben ihre Investitionen als Verluste ab. Dubuc hörte auf, Vice stellte die internationale Sparte Vice World News ein und entließ mehr als 100 Angestellte. Und nun der Antrag auf Gläubigerschutz. Sollte kein höheres Angebot als der 225-Millionen-Dollar-Credit-Bit eingehen, dürfte Vice als Konzern weitermachen. Bei einem höheren Gebot könnte es auch sein, dass einzelne Sparten verkauft werden. Das einst so prächtige Einhorn wäre dann nicht nur vom Himmel auf den Boden geknallt, sondern würde auch noch zerstückelt.

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