Verzicht:Der Kult des Weniger

Verzicht: Rettungsaktion: Raphael Fellmer bezeichnet sich als "Lebensmittelretter". Hier sieht man, weshalb. Er sucht im Müll regelmäßig nach essbaren Lebensmitteln, um ein Zeichen gegen Verschwendung zu setzen.

Rettungsaktion: Raphael Fellmer bezeichnet sich als "Lebensmittelretter". Hier sieht man, weshalb. Er sucht im Müll regelmäßig nach essbaren Lebensmitteln, um ein Zeichen gegen Verschwendung zu setzen.

Die Reichen haben viel, die Armen wenig: Besitz hat immer auch mit Ungleichheit zu tun. Manch einer will ein Zeichen setzen und verzichtet bewusst, auf Möbel, Geld oder Shopping. Drei Menschen, für die weniger mehr ist.

Von Felicitas Wilke

Das Statussymbol des Verzichts begann mit einer Weltreise. Bevor Michael Kelly Sutton aufbrach, packte er alles, was er besaß, in Umzugskisten und stellte sie bei Freunden unter. Als der Student nach Kalifornien zurückkehrte, merkte er, dass er die wenigsten Dinge wirklich vermisst hatte. Sutton beschloss, sich von den unnötigen Dingen zu trennen - und ging dabei radikal vor. Er behielt etwas Kleidung und ein paar Habseligkeiten, darunter seinen Laptop, eine DVD, sein Bett und einen Schrank. Den Rest gab er weg. Wenn er sich neue Dinge zulegte, überlegte er von nun an genau, ob er sie wirklich brauchte. Auf seinem Blog gab er dieser Lebenseinstellung einen Namen: Cult of Less. Dahinter steckte nicht nur das gute Gefühl, das aufkommt, wenn man endlich unnütze Dinge ausgemistet hat. Sutton wollte auch darauf aufmerksam machen, dass wir oft achtlos Dinge kaufen, die wir gar nicht brauchen - und damit Ressourcen verschwenden. Gerade für reiche oder wohlhabende Menschen ist Besitz ein Statussymbol. Wer bewusst auf ein neues Auto, neue Kleidung, oder eine schicke Uhr verzichtet, obwohl er sich leisten könnte, will den Wohlhabenden in dieser Gesellschaft zeigen: Es geht auch ohne. Die Cult-of-Less-Bewegung will die Wohlhabenden dazu animieren, ihre Beziehung zum Besitz zu überdenken. Braucht man das wirklich alles? Könnte man nicht weniger, und dafür aus fairem Handel konsumieren und damit versuchen, die weltweite Ungleichheit zu verringern?

Sutton, der Gründer der Bewegung, hat heute "eine Freundin und ein Waffeleisen", wie er auf seiner Website berichtet: "Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass das Projekt beendet ist". Auch wenn er sich heute leicht ironisch von seinem Kult um wenig Besitz distanziert, hat er mit seinem Projekt viele Menschen inspiriert. So sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Ratgeber über die vermeintlich richtige Art auszumisten erschienen, und es gibt viele Blogs, die sich dem Minimalismus widmen. Auch dahinter steckt die Einstellung, mit möglichst wenig materiellem Besitz auszukommen. Und zwar nicht nur aus pragmatischen Gründen, etwa um Platz oder Geld zu sparen, sondern auch, um eine Gegenposition zu einer stark konsumorientierten Gesellschaft einzunehmen. Wir haben drei Menschen befragt, die bewusst verzichten - auf Möbel und einen festen Wohnsitz, auf Geld oder einfach darauf, ständig neue Dinge zu kaufen.

Lebt aus dem Koffer

Katharina Finke, 31, lebt seit fünf Jahren aus dem Koffer. Von einem Großteil ihrer Besitztümer hat sie sich getrennt - und fühlt sich seitdem frei und aufgeräumt.

"Nein, als Asketin würde ich mich nicht bezeichnen. Ich bin nicht der Typ, der sich Zwänge auferlegt. Dafür genieße ich zu gern, gebe vergleichsweise viel Geld für gutes Essen aus und trinke Alkohol. Aber auf viele andere Dinge verzichte ich tatsächlich. Seit fünf Jahren lebe ich aus dem Koffer. Aus zwei Koffern und einer Reisetasche, um genau zu sein. Da passt mein kompletter Besitz rein - neben Kleidern zum Beispiel mein Laptop und meine Kamera. Ich kann jederzeit packen und aufbrechen. Ich habe keinen festen Wohnsitz, lebe mal zur Zwischenmiete hier, im Hostel oder bei Freunden dort. Das ist nicht nur praktisch, es gibt mir auch ein Gefühl der Freiheit.

Ich arbeite als freie Journalistin und bin viel im Ausland unterwegs. Auf meinen Reisen habe ich schon früh gemerkt, dass ich eigentlich nicht viel brauche. In meiner damaligen Wohnung in Hamburg hatte ich trotzdem Möbel und einen vollen Kleiderschrank - auch, weil es mir Spaß machte, shoppen zu gehen. Nach der Trennung von meinem Freund lösten wir unsere Wohnung auf und es stellte sich die Frage: Wohin mit den ganzen Sachen? Ich verkaufte und verschenkte das meiste.

Doch hinter meinem Verzicht auf viel Besitz steckt noch mehr. Ich berichte oft über Umwelt- und soziale Themen und habe bei meinen Recherchen die getroffen, die unter unserem Konsum leiden. In Florida habe ich zum Beispiel eine Geschichte über pensionierte Schimpansen gemacht, die ihr Leben lang in Tierversuchen gequält wurden. Auch wegen solcher Erfahrungen achte ich darauf, keine Produkte zu kaufen, die an Tieren getestet wurden. Bei Kleidung ist mir wichtig, dass sie nachhaltig und fair produziert wurde.

Ich lehne Besitz aber nicht generell ab. Ich schätze das, was ich habe, umso mehr. Den Gegenständen kommt eine bestimmte Funktion zu und vieles von dem, was ich nicht weggegeben habe, hat einen umso größeren immateriellen Wert für mich. Das kann das T-Shirt aus New York sein oder das Armband, das mir mein Freund aus Haiti mitgebracht hat. Es ist auch nicht so, dass ich mir nie neue Sachen kaufen würde. Schließlich ist Kleidung irgendwann auch mal irreparabel verschlissen und ich kaufe mir neue. Und wenn ich mir mal die Zeit nehme, einkaufen zu gehen, genieße ich es umso mehr - weil es etwas Besonderes ist.

Ich empfinde mein Leben mit vergleichsweise wenigen Gegenständen als aufgeräumt, klar und einfach. Wenn ich mir überlege, was ich anziehen soll, steht gar nicht so viel zur Wahl: nur vier Jacken, vier Hosen und ein Dutzend Kleider. Ein Koffer mit Habseligkeiten, die ich nie weggeben würde, steht bei meinen Eltern. Bei ihnen bin ich offiziell gemeldet. Es stört mich nicht, kein festes Zuhause zu haben.

Viele Menschen suchen es sich nicht aus, wenig zu besitzen und an keinem festen Ort zu leben. Mir ist klar, dass es ein Privileg ist, mich bewusst und ohne Not dafür entscheiden zu können. Über meine Erlebnisse und Erfahrungen habe ich auch ein Buch geschrieben. Aber ob ich auch in fünf Jahren noch so leben werde? Einen festen Wohnsitz werde ich bis dahin vielleicht haben. Ich wünsche mir Kinder und ihnen kann und ich will kein Leben aus dem Koffer zumuten. Zustellen mit Möbeln werde ich meine Wohnung aber nicht, das kann ich mir nicht mehr vorstellen. Was ich mir hoffentlich erhalten werde, ist der bewusste Konsum. Ich bin gespannt, ob ich stark bleibe oder meinen Kindern doch ein großes Prinzessinnenschloss kaufe."

Verzichtete auf Geld

Raphael Fellmer, 33, hat jahrelang auf Geld verzichtet. Er wollte damit sich und anderen beweisen, wie man Ressourcen nutzen kann, die wir achtlos verschwenden.

"Ich habe fünfeinhalb Jahre ohne Geld gelebt. Das heißt aber nicht, dass es keine Bedeutung für mich hat. Es hat mich schon als Kind traurig gemacht, dass Millionen andere Kinder auf der Welt nicht genug zu essen haben. Ich konnte nicht verstehen, wieso wir uns nicht gegenseitig helfen können. Mir war bald klar, dass Geld darüber entscheidet, ob Menschen hungern müssen oder nicht. Also beschloss ich als Schulkind, Millionär zu werden, um das Geld für notleidende Menschen, Tiere und die Umwelt zu einzusetzen. Als ich älter wurde, erkannte ich, dass es nur möglich ist, Kapital anzusammeln, wenn man auf Kosten anderer handelt. Also begann ich, von einer Welt zu träumen, die ohne Geld und Tausch funktioniert. Eine Welt, in der die Menschen sich aus einer inneren Motivation heraus helfen.

Kurz danach trampte ich gemeinsam mit zwei Freunden von meinem Studienort Den Haag aus los Richtung Mexiko. Unser Weg führte uns durch Europa, Nordafrika und Südamerika. Mehr als 500 Mitfahrgelegenheiten später kamen wir an. Wir fuhren bei Fremden im Auto mit oder segelten mit ihnen übers Meer, schliefen bei gastfreundlichen Menschen oder im Freien, aßen die Reste in Restaurants oder suchten in der Tonne nach Nahrung. Hungrig waren wir eigentlich nie. Es gab Momente der Verzweiflung, aber die positiven Erlebnisse überwogen: die Gastfreundschaft der Menschen, ihre große Hilfsbereitschaft. Fast alle haben uns sehr respektvoll behandelt. Sie haben Fragen gestellt, wieso wir all das machen, sie waren immer aufrichtig interessiert. Als Schmarotzer beschimpften sie uns nie. Vielleicht, weil wir unsere Motive immer erklärt haben.

Zurück in Deutschland haben meine Frau und ich eine Tochter bekommen. Mit meiner Familie wohnte ich in wechselnden Unterkünften. Ein Jahr in einem Friedenszentrum, ein Jahr bei einer Familie im Souterrain. Wir lebten ein gutes Leben ohne Geld. Ich gehöre zu den Mitbegründern der Foodsharing-Bewegung und wende viel Zeit dafür auf, Lebensmittel zu retten, die Supermärkte wegwerfen. Dabei kommt viel mehr zusammen, als meine Familie je essen könnte. Daher teilen wir es mit anderen Menschen. Mit der Kleidung und allem, was man sonst noch braucht, halten wir es genauso. Ich glaube, wenn man es schafft, eine Kultur des Teilens zu etablieren, dann verliert Geld an Bedeutung.

Trotz all den wertvollen Erfahrungen, hebe ich meinen Geldstreik vor einem Jahr beendet. Inzwischen sind wir zu viert und haben gemerkt, wie schwierig es als Familie mit zwei Kindern ist, ohne Geld Wohnraum zu finden. Weil mir das Wohl meiner Familie wichtiger ist als Prinzipien, nehme ich inzwischen Geld für Vorträge an. Ich trete zum Beispiel als Redner auf Konferenzen auf und berichte von meinem Leben ohne Geld. Wir kommen mit etwa 700 bis 800 Euro im Monat aus. Den Gedanken des Teilens leben wir weiterhin. Gerade bin ich mit einigen Mitstreitern dabei, Sharecy zu starten, eine Plattform für weltweites Teilen. Ich empfinde es nicht als Scheitern, den Geldstreik beendet zu haben. Ich wollte damit zeigen, was alles möglich ist ohne Geld. Und ich kann die Erfahrung nur jedem empfehlen."

Setzt sich für das Teilen ein

Marko Dörre, 43, ist Rechtsanwalt in Berlin. Daneben hat er vor drei Jahren die Plattform Fairleihen gegründet, auf der die Berliner kostenlos Dinge verleihen können. Noch in diesem Jahr soll es das Angebot in anderen deutschen Städten geben.

"Ich denke mir in vielen Situationen: Nein, das kaufe ich jetzt nicht, das leihe ich mir lieber. Zum Beispiel würde ich gerne mal Smoothies selber machen. Einen Entsafter, der dafür nötig ist, besitze ich aber nicht. In solchen Fällen profitiere ich selbst von meiner Plattform Fairleihen. Ich stelle eine Suchanfrage online und wenn alles gut läuft, hole ich das Gerät innerhalb von ein paar Tagen bei Menschen in meinem Viertel ab - und bringe es zum vereinbarten Zeitpunkt wieder zurück.

Vor vier Jahren kam ich auf die Idee, eine Plattform für das kostenlose Verleihen von Dingen zu gründen, vor dreieinhalb Jahren ging Fairleihen dann online. Wer mitmachen will, muss drei Dinge hochladen, die er zu verleihen bereit wäre. Denn der faire Gedanke ist mir wichtig: Alle sollen bereit sein, zu geben und zu nehmen. Viele Menschen bieten Bücher zum Verleih an, aber auch vergleichsweise teure Dinge wie eine Bohrmaschine, ein Zelt oder ein Waffeleisen.

Hinter der Idee stecken mehrere Ziele. Am wichtigsten ist mir der nachhaltige Gedanke, das Statement: Schaut mal, wie viel wir alle als Gemeinschaft besitzen. Jeder Einzelne muss sich gar nicht so viel selbst kaufen, wenn wir es auch zusammen nutzen können. Wir leben über unsere Verhältnisse und verbrauchen zu viele Ressourcen. Politik und Wirtschaft tun nicht besonders viel gegen Verschwendung. Also habe ich mir überlegt, welchen Beitrag wir als Konsumenten leisten können. Vieles von dem, was in unseren Schränken und Regalen liegt, nutzen wir nicht. Wieso also nicht weniger konsumieren, indem man mehr gemeinsam nutzt?

Wer teilt, spart außerdem Geld. Die Plattform soll auch Menschen den Zugang zu Dingen ermöglichen, die sie sich sonst nicht leisten können. Und sie kann einen Beitrag zum Miteinander in der Nachbarschaft oder im Viertel leisten. Wer drei Straßen weiter einen Toaster abholt, lernt auch den Menschen kennen, der ihn verleiht.

Ich finde den Minimalismus als Konzept spannend. Ich glaube, dass es einen reinigenden Effekt haben kann, Dinge wegzugeben und mit weniger auszukommen. Ich glaube aber nicht, dass ich mich auf Dauer so einschränken wollen würde. Ich denke, Nachhaltigkeit kann auch funktionieren, wenn man ein paar Sachen zu Hause liegen hat, die man nicht so oft verwendet. Nur kann man eben überlegen, wie man sie öfter und besser nutzen könnte - etwa durch teilen und verleihen. Ich bin selbst überrascht, wie reibungslos das auf der Plattform bislang funktioniert. Bei mir hat sich in mehr als drei Jahren noch nie jemand beschwert, dass etwas nicht zurückgegeben worden oder kaputt gegangen wäre. Es ist schön zu sehen, dass die Menschen den Namen der Website beim Wort nehmen und es wirklich fair zugeht. Ich habe das Gefühl, dass ein Umdenken stattfindet. Das enge, emotionale Verhältnis, das viele Menschen zu ihrem Besitz haben, lockert sich ein bisschen. Man besitzt gerne, ist aber auch bereit, das zu teilen."

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