Als Russland die Ukraine überfiel, gaben viele Militärexperten der Ukraine nur Wochen oder wenige Monate, bis sie kapituliert. Gundbert Scherf hatte eine These, warum sich das scheinbar militärisch unterlegene Land viel länger und bis heute halten kann. „Nicht die Hardware ist ausschlaggebend, sondern die Software“, sagte der Co-Geschäftsführer und Gründer des KI-Start-ups Helsing einige Monate nach dem Überfall auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel. Russland habe zunächst viele Panzer – aus Scherfs Sicht Hardware – in ukrainische Ortschaften geschickt. Doch durch die von moderner Software unterstützten Waffensysteme, die der Ukraine geliefert wurden, konnte sie sich besser verteidigen.
Dass künstliche Intelligenz (KI) die Kriegsführung des 21. Jahrhunderts mitbestimmen wird – davon sind auch Investoren überzeugt. Wie Helsing am Donnerstag mitteilte, soll das Unternehmen aus München in der jüngsten Finanzierungsrunde 450 Millionen Euro eingesammelt haben. Der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge wird Helsing dadurch mit rund fünf Milliarden Euro bewertet. Bloomberg beruft sich auf einen Insider. Zu der Bewertung wollte sich das Unternehmen auf Anfrage der SZ nicht weiter äußern. Seit Herbst 2023 gilt Helsing als das erste europäische Einhorn - als Start-up mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar - in der Rüstungsbranche.
Was baut Helsing?
Die 2021 gegründete Firma hat sich auf den Einsatz von KI in Waffensystemen spezialisiert. Die Software soll unter anderem Waffen wie Drohnen und Düsenjäger verbessern. So könnte der alte Traum einiger Militärs wahr werden: Soldaten und Waffensysteme mit hochmoderner Software zum größeren Ganzen zu vernetzen. So soll ein großer Teil der aufwendigen analogen Kommunikation und Verarbeitung von Information automatisiert werden, Soldaten weniger mit Funkgeräten und Landkarten hantieren müssen.
Die Helsing-KI arbeitet mit Daten, die von Waffensystemen oder Sensoren optisch, per Infrarot, Radar oder Sonar erfasst werden. Solche Sensoren können zum Beispiel aus Hubschraubern abgeworfen werden. Aus den Daten baut die KI-unterstützte Software ein Lagebild im Computer, unter anderem für den Eurofighter-Kampfjet. Dabei bereitet Helsings Technik die Daten für bestehende Militär-Software auf und macht sie leichter zu handhaben. Dazu gehört auch die Zielerfassung durch Drohnen, um Artillerie zu unterstützen.
Das Unternehmen hat seine Hauptsitze in München, London und Paris mit rund 300 Beschäftigten. Dass Helsing das Groß-Investment während des Nato-Gipfels in Washington verkündete, könnte kein Zufall sein. Mit dem Geld möchte die Firma ihre Präsenz in den an Russland angrenzenden europäischen Ländern ausbauen. Nach eigenen Angaben ist das Unternehmen seit 2022 in der Ukraine aktiv. Dort ist seine KI-Software in ukrainische oder westliche Kampf- und Aufklärungsdrohnen integriert. Die sollen etwa bei elektronischen Störmaßnahmen der russischen Armee eigenständig und unabhängig von der technischen Zentrale ihr Ziel finden.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius lobte die Technologie schon. Solche Entwicklungen seien sehr wichtig für die Ukraine, um „in diesem Abwehrkampf mit klugen und innovativen Konzepten und Mitteln bestehen zu können“, sagte er vor rund einem Monat. Von den Entwicklungen profitiere nicht nur die Ukraine, sondern auch die Bundeswehr.
Helsing hat sich Verträge mit dem Verteidigungsministerium in Deutschland und der Ukraine gesichert. Doch das Unternehmen hält sich bedeckt, um wie viele Verträge es sich handelt. Bekannt ist, dass Unternehmen Ende 2022 mit der Bundeswehr zusammenarbeitete. Mit dem BWI, dem IT-Systemhaus der Bundeswehr, hat Helsing eine Lösung zur KI-gestützten Aufklärung erprobt. In dem Projekt wurde getestet, wie die Software aus Sensordaten in Echtzeit ein dreidimensionales Lagebild baut. Dadurch sollen sich Feindbewegungen im Gefecht unmittelbar erkennen lassen.
Helsing wirbt offensiv damit, KI zum „Schutze unserer Demokratien“ zu entwickeln. Diktaturen und Autokratien werde man die Technologie nicht verkaufen.
Der zunehmende Einsatz von KI im Krieg wird auch kritisiert. KI bedeutet immer auch Automatisierung. Bei der Entscheidung, wann und was angegriffen wird, kann zunehmende Automatisierung zu ethischen Fragen führen. Verlassen sich Soldaten und Generäle zu sehr auf die Technologie, stellt sich die Frage, wer die Verantwortung für – womöglich tödliche – Fehler übernimmt.
Wer hat in Helsing investiert?
In dieser Finanzierungsrunde hat Helsing neues Kapital von den Wagniskapitalgebern Accel, Lightspeed Venture Partners, Plural, Greenoaks Capital Management und dem Investor Elad Gil erhalten. 2021 hatte unter anderem Prima Materia, die Investmentgesellschaft von Spotify-Gründer Daniel Ek, 100 Millionen Euro in das Start-up investiert. An dieser Finanzierungsrunde beteiligte sie sich jedoch nicht. Ek sitzt wie der ehemalige Airbus-Chef Thomas Enders im Verwaltungsrat von Helsing.
Derzeit erhalten viele KI-Start-ups sehr hohe Bewertungen. So viele, dass Befürchtungen laut werden, es handele sich um eine Investitionsblase, ausgelöst durch den Boom seit Veröffentlichung des Chatbots Chat-GPT 2022. Manche Bewertungen von Start-ups sind von außen nur schwer nachzuvollziehen, weil sie im Vergleich zu börsengehandelten Firmen kaum Veröffentlichungspflichten unterliegen. Inwieweit Bewertungen den „wahren Wert“ eines Unternehmens widerspiegeln, ist deshalb umstritten.
Ein extremer Fall macht derzeit sogar Schlagzeilen: das KI-Start-up Aleph Alpha aus Heidelberg, das als europäischer Konkurrent zu den leistungsfähigen Silicon-Valley-Chatbots von Google und Open AI gehandelt wird, sich aber derzeit unangenehme Fragen gefallen lassen muss. Es geht darum, wie viel Geld von einer lautstark verkündeten Finanzierungsrunde über 500 Millionen Euro denn tatsächlich geflossen sind.
Aktualisierung vom 12.7.2024: Wir haben die Beschreibung der Helsing-KI präzisiert.