Süddeutsche Zeitung

Verteidigung der Lokführer:Ein Herz für die Kleinen

Es ist schon zweifelhaft, wie verhältnismäßig ein so langer Ausstand wie aktuell der Lokführer-Streik ist - besonders, wenn es dabei um den Machtkampf zwischen Gewerkschaften geht. Trotzdem: Es ist wichtig und richtig, dass es neben den großen Verbänden auch Alternativen gibt. Wie die GDL.

Kommentar von Marc Beise

Eigentlich kann einem der Mann fast leidtun. Was Claus Weselsky in dienen Tagen über sich lesen und hören muss, möchte man seinem ärgsten Feind nicht wünschen. Scharfmacher, Rumpelstilzchen, Tyrann, Assad, der "größte Bahnsinnige" - Beinamen wie diese finden ihren Weg teilweise sogar in seriöse Medien, von den ungezügelten sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Das Kürzel der von Herrn Weselsky geführten Organisation, der Gewerkschaft der Lokführer, ist Allgemeingut und wird fast nur noch mit einem Gefühl des Abscheus verwendet: GDL! Das ist fast wie früher: DDR! - nur dass man nicht rufen kann: "Dann geh doch nach drüben!"

Denn "drüben" ist überall, weil die Deutsche Bahn AG mit ihren Zügen, Gleisen und Bahnhöfen allgegenwärtig ist und damit auch der Streik der GDL. Und weil die Wucht dieses Streiks auf einem Feld der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Mobilität im Land, so groß ist wie bei kaum einem Arbeitskampf zuvor, wird auch gleich das Instrument des Streiks verunglimpft, wird als maßlos, verantwortungslos, hirnrissig gebrandmarkt.

Streik ist dann schnell nur noch ein anderes Wort für Schikane.

Dabei ist Streik - selbst in diesem Fall - zunächst und grundsätzlich ein Grundrecht. Die Gründe, weshalb gestreikt werden darf, sind nirgends abschließend aufgezählt, es muss nicht nur um Lohn und Zeit gehen. Aber natürlich stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit, wenn in diesem Fall vor allem ein Machtkampf zwischen Gewerkschaften ausgefochten wird: wer nämlich für welche Berufsgruppe im Bahn-Konzern verhandeln und streiten darf. Und natürlich provoziert GDL-Chef Weselsky ungeheuerlich, wenn er immer wieder das Land lahmzulegen versucht. Der Zorn der Kunden ist verständlich, weshalb man, wenn man nicht gerade Lokführer ist, das Ausmaß dieses Streiks nicht gutheißen mag. Aber davor warnen, deshalb hier argumentativ zu überziehen, das wird man trotz des geballten Volkszorns wohl noch dürfen.

Kleine Gewerkschaften sind besser als ihr Ruf

Es ist nämlich keinesfalls böse, wenn es neben den großen Gewerkschaftstankern wie IG Metall oder Verdi auch kleinere, sogenannte Spartengewerkschaften gibt, die also einzelne Berufsgruppen vertreten wie eben Lokführer, Piloten oder Ärzte - und diese Interessenvertretungen dürfen dieselben Rechte in Anspruch nehmen wie die Großen, sie dürfen sich neben diesen breitmachen, sogar in ein und demselben Unternehmen.

Das alles ist nicht nur nicht verwerflich, sondern aus liberaler und marktwirtschaftlicher Sichtweise durchaus wünschenswert, es führt zu mehr Wettbewerb und damit mutmaßlich zu besseren Ergebnissen und größerer Zufriedenheit bei den Arbeitnehmern, vielleicht sogar beim betroffenen Betrieb insgesamt - solange die Arbeitsbedingungen am Ende einheitlich sind. Dass manche Personalvorstände sich lieber auf einen Ansprechpartner konzentrieren, dass Arbeitgeberverband und DGB ihre gemeinsame Macht in der Tariflandschaft zementieren wollen, ist verständlich, deswegen aber noch lange nicht zwingend.

Leider hat sich die Regierung Merkel - die als große Koalition systemimmanent kein Herz für die Kleinen hat - darauf verständigt, mit einem Gesetz zur Tarifeinheit den Wildwuchs im Gewerkschaftslager zurechtzustutzen. Letztlich soll dadurch im einzelnen Unternehmen das frühere Monopol der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern wiederhergestellt werden: Nur deren Tarifvertrag soll im Betrieb gelten. Selbst starke Berufsgewerkschaften wie eben die GDL würden vom Wohlwollen der konkurrierenden DGB-Gewerkschaften abhängig.

Ob ein solches Gesetz von den Bundesverfassungsrichtern in Karlsruhe, Bestand haben wird, ist noch sehr die Frage. Aus ordnungspolitischer Sicht jedenfalls ist es ein Fehler. Wer die Macht der Kleinen beschneidet, beschneidet die Freiheit im Betrieb, die Koalitionsfreiheit, den Pluralismus.

Er schadet dem Wettbewerb, der in der Wirtschaft sonst so viel gilt. Das macht die Lage manchmal anstrengend verworren, ist aber (auch) der Preis der Komplexität der Wirtschaft. Einheitslösungen sind einfach, aber nicht kreativ. Es ist die große Tragik des aktuellen Lokführerstreiks, dass dieser in seiner Maßlosigkeit solche Überlegungen diskreditiert. Indem sie die Freiheit, die sie haben, missbrauchen, arbeiten die Lokführer den Gegnern ihrer Freiheit in die Hände. Schön blöd.

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Quelle:
SZ vom 06.11.2014
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