Verschlüsselung:Harry Halpin hat einen Plan für das Internet

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Das Experiment läuft: Harry Halpin (hier 2016 auf einer Konferenz) versucht, die Bitcoin-Idee mit der des Tor-Browsers zu kombinieren. Der US-Amerikaner hat Informatik und Philosophie studiert und arbeitete unter anderem für Yahoo und das Massachusetts Institute of Technology. Foto: Sebastiaan ter Burg from Utrecht, The Netherlands, Harry Halpin at the Crypto Design Awards 2016 (31152504172), CC BY 2.0 (Foto: Sebastiaan ter Burg/Sebastiaan ter Burg, Harry Halpin at the Crypto Design Awards 2016, CC BY 2.0)

Der Anarchist und Netz-Vordenker will gegen allgegenwärtige Überwachung eine Alternative zu VPNs und dem Tor-Browser schaffen. Dazu will er Menschen mit speziellem Kryptogeld bezahlen.

Von Jannis Brühl

Sicher ist nur, dass das Internet unsicher ist. Zwei der bekanntesten Techniken, die vermeintlich vor Überwachung beim Surfen schützen, sind anfällig. Virtual Private Networks (VPNs) können von Spionen infiltriert werden. Nutzer haben keine Wahl, als dem Unternehmen hinter dem VPN blind zu vertrauen. Die Firma kann Informationen, wer wann welche Webseite besucht, erfassen und weitergeben. Und der grundsätzlich gut gesicherte Tor-Browser wird von Dissidenten, Hackern - und Kriminellen - geliebt. Auch er kann allerdings unterwandert werden; zumindest von Geheimdiensten mit entsprechenden technischen Mitteln.

Es sieht also nicht gut aus für die Privatsphäre der Menschen. Doch Harry Halpin sagt, dass er dieses Problem lösen kann. Und wenn der Unternehmer, Informatiker und Philosoph Harry Halpin ein Problem angeht, dann wird es grundsätzlich.

Das Unternehmen des US-Amerikaners heißt Nym - wie in "anonym" - und baut auf eine spezielle Verschlüsselungstechnik, die seit einigen Tagen den Testbetrieb verlassen hat. In Halpins Forschungs-Paper über die Software heißt es neben anspruchsvollen mathematischen Formeln: Es gehe um die Frage, ob die Zukunft "Knechtschaft oder Befreiung" bringe. Für "ganz normale Menschen von Syrien bis Europa geht es bei der Wahl ihrer Software um Entscheidungen über Leben oder Tod".

Das Internet weiterdenken

Klingt nach übertrieben pathetischem Marketing, aber Halpin ist nicht irgendwer. Wie sein Kumpel Moxie Marlinspike, der Gründer der Whatsapp-Alternative Signal, gehört Halpin zu einer Gruppe von Vordenkern, die die Fundamente des Internets weiterentwickeln wollen. Er arbeitete mit Tim Berners-Lee, dem Erfinder des Web, am Massachusetts Institute for Technology an Verschlüsselung für Browser. Er saß im World-Wide-Web-Konsortium (W3C), das Standards für das Internet festlegt - und ging, weil sich dort kommerzielle Vorstellungen vom digitalen Kopierschutz durchsetzten. Denn Halpin ist nicht nur Experte für Kryptografie, er bezeichnet sich auch als Kryptoanarchisten: "Für uns heißt Anarchismus nicht Chaos, sondern individuelle Autonomie."

Nun will der Anarchist selbst Geschäfte machen. Nym hat 30 Mitarbeiter und sitzt in Neuchâtel, einem der Schweizer Kantone, die Krypto-Start-ups anziehen. Die Ursprünge von Nym liegen in EU-geförderten Forschungsprojekten. Seit Edward Snowdens Enthüllungen über NSA-Überwachung sei klar gewesen, dass Europa selbst Technologie für die Privatsphäre der Bürger entwickeln müsse, sagt Halpin: "Wir können unseren Regierungen nicht mehr vertrauen, unsere Rechte in Bezug auf unsere Körper, unsere Daten, unseren eigenen Geist zu garantieren." Nicht einmal das Handy der Bundeskanzlerin war schließlich vor der NSA sicher.

Nym ist kein eigenständiges Programm, die Technik soll in bestehende Dienste eingebaut werden und Chat-Apps, Film-Streaming und Online-Zahlungen abhörsicher machen. Sie bringt zwei Technologien zusammen: die des Tor-Browsers, für den Tausende Nutzer ihre Computer bereitstellen, um den Datenverkehr der Nutzer so oft umzuleiten, dass er für Spitzel praktisch nicht mehr nachzuvollziehen ist; dazu die Bitcoin-Idee, nach der Computer ihre Kapazitäten einsetzen können, um digitale "Münzen" zu erzeugen. Nur dass sie bei Nym mit ihrer Rechenkraft kein virtuelles Geld "schürfen", sondern Datenverkehr bis zur Unkenntlichkeit verwirbeln. Diese sogenannte Mixnet-Technik "mischt" die Datenpakete, die über die Computer des Unterstützer-Netzwerkes laufen: Sie fügt echten Daten Attrappen-Daten hinzu und verändert die Reihenfolge der Pakete. Das soll Spione verwirren, die die Daten abfangen. "Als würden Sie einen Kartensatz mischen", sagt Halpin.

Damit will er einen Geburtsfehler von Tor beheben: Der Zwiebel-Browser ("Tor" steht für The Onion Router) ist benannt nach den vielen Schutzschichten um die Daten herum. Auch Tor leitet den Verkehr über mehrere Knotenpunkte, um den Ursprung zu verschleiern. Doch wenn eine Hackertruppe vom Kaliber der NSA ausreichend viele dieser Knotenpunkte übernommen hat, kann sie mit einer Art "Gottesblick" einen so großen Teil des Netzwerks überwachen, dass die Anonymität der Nutzer futsch ist.

Unterstützung aus Deutschland

Unterstützt wird Halpins Mixnet aus der deutschen Hacker-Szene. 2019 stellten er und sein Team ihre Technik auf dem Kongress des Chaos Computer Club in Leipzig vor. Zuhörer dort waren die ersten, die ihre Computer für Tests zur Verfügung stellten. "Wir haben heute fast 5000 Knoten, in Deutschland haben wir die meisten", sagt Halpin.

Was haben Kryptowährungen mit dem Ganzen zu tun? Ihn habe fasziniert, wie virtuelle Münzen - Token genannt - als Anreiz dienen könnten, sagt Halpin. Wer seinen Computer zur Verfügung stellt, um Daten im Nym-System unkenntlich zu machen, wird mit diesen Token belohnt. Wie Jetons können sie in das Geld konvertiert werden, das Nym-Nutzer oder Unternehmen, die Nym in ihre Software integrieren, für den Dienst zahlen. Wer besonders gute Knoten betreibe, werde zusätzlich belohnt. Zudem dienen die Token als "Eintrittskarte", um das Mixnet zu nutzen. Anfang Februar bot Nym die ersten 75 Millionen Token an. Sie gingen binnen fünf Tagen weg, das Unternehmen nahm nach eigenen Angaben 30 Millionen Dollar ein.

So will Halpin die Falle des idealistischen Tor-Projektes umgehen: Die Nutzerzahl von zwei Millionen Menschen ist relativ konstant, das Projekt ist auf die unbezahlte Arbeit Freiwilliger angewiesen. "Altruismus skaliert nur bis zu einem bestimmten Punkt", sagte er 2019. Er betont aber, dass er Tor nicht überflüssig machen will und selbst täglich nutzt.

Der Krypto-Hype komme ihm nun zugute, gibt er zu. "Wenn irgendein Typ aus Korea oder Japan sagt: 'Hey, ich würde gern etwas Geld verdienen', macht er einfach seine Maschine an und lässt Software laufen, die aber, statt Bitcoin zu schürfen, einen Knoten für uns bereitstellt." Dafür gibt es dann Nym-Token. Halpin sagt, sie seien nicht zum Spekulieren da wie Kryptowährungen. Wer seine Rechenkraft zur Verfügung stellt, um das Surfen für alle Nym-Nutzer sicherer zu machen, solle davon aber leben können. Für Nym arbeitende Computer verbrauchten auch weniger Energie als die notorisch stromhungrigen Kryptowährungen.

Auch Whistleblowerin Chelsea Manning arbeitet für Halpins Start-up Nym. (Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP)

Im Herbst sammelte Nym 13 Millionen Dollar ein, unter anderem von der Risikokapital-Firma Andreesen Horowitz, den wohl bekanntesten Geldgebern des Silicon Valley. Sie investieren massiv in Krypto-Projekte. Halpin sagt: "Risikokapitalisten schauen sich VPNs an und sehen einen äußerst heterogenen, ineffizienten Markt. Die wollen, dass er funktioniert." Mit dieser Finanzierungsrunde wurde Nym mit 270 Millionen Dollar bewertet.

Ein prominentes Gesicht bei Nym

Halpin hat zudem mit Chelsea Manning ein prominentes Gesicht für Nym gewonnen.. Die Whistleblowerin ist eine Heldin für die Informationsfreiheit geworden, seit sie interne Dokumente der US-Armee an die Plattform Wikileaks weitergab - damals über Tor - und dafür ins Gefängnis musste. Nun prüft sie für Halpin die Sicherheit der Nym-Technik.

Halpin, der in einem Satz schon mal die Brücke von Heideggers Technologieverständnis zu Googles Nutzeroberflächen schlägt, hat eine Vision, die weit über ein Start-up hinausgeht. Der promovierte Philosoph arbeitete mit dem 2020 verstorbenen französischen Philosophen Bernard Stiegler zusammen, der viel darüber nachdachte, wie man die neuen Medien aus dem Griff des Kommerzes befreien könne. Stiegler wollte sie nicht als Technikfeind verdammen, sondern sie für die Menschen einsetzen. Die - positiv gemeinte - "Sorge" um andere stand im Mittelpunkt seiner Arbeit. Für Halpin ist der Schutz digitaler Kommunikation die Umsetzung dieser Sorge um die Menschen und den Planeten in die Praxis. Ein Buch, an dem er mit Stiegler gearbeitet habe, habe er auch noch in der Schublade. "Das muss ich irgendwann mal rausbringen."

Aber wer das Internet vor der NSA schützen will, hat eben wenig Zeit.

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