Die erste Liste der reichsten Deutschen basiert nach allem, was man heute weiß, auf einem Datenschutzverstoß. Begangen hat den Verstoß 1912 der Jurist Rudolf Martin. Als ehemaliger Beamter im Kaiserreich hatte Martin Zugriff auf die privaten Steuererklärungen der Reichen - eine hervorragende, und vielleicht die einzige Quelle für die Vermögensverhältnisse der Millionäre und Millionärinnen in Preußen. Martin stritt sein Vergehen dennoch ab.
Wenn das Magazin Forbes oder das Manager Magazin heute ihre Listen der reichsten Menschen veröffentlichen, dann werden dafür Archive durchforstet, Register durchsucht, Vermögensverwalter, Anwälte und Banker befragt. Seit 1987 liefert Forbes jedes Jahr seine Reichenliste, die die Neugierde der Massen befriedigt. Wer ist der oder die Reichste im ganzen Land? Aber nicht nur die weniger wohlhabenden, sondern auch die Reichen selbst interessieren sich für die Rankings.

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Der deutsche Listenponier Rudolf Martin schrieb 1912 an die preußischen Millionäre, er würde bald das Jahrbuch des Vermögens und Einkommen veröffentlichen - und da sei auch ihr Vermögen und Einkommen aufgelistet. Die waren zunächst wenig erfreut über dessen Ankündigung, sagt Eva-Maria Gajek. Sie forscht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen über Reichtum, Vermögen und Kapitalismus. Das Missfallen der Oberschicht war nicht ganz unbegründet, sagt Gajek. Martin kündigte nämlich an, er werde auch über die Biografien der Millionäre schreiben. Wie sind sie an ihr Vermögen gekommen? In welchen Familienverhältnissen? Wo leben sie? "Und da ist natürlich was aufgekocht", so Gajek.
"Ein Kommunikationsmittel der Oberschicht"
Mit der ersten Veröffentlichung des Jahrbuchs änderte sich die Einstellung der Millionäre schlagartig. Sie wurden plötzlich zu den besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Martins. Statt sich weiter zu empören, fingen sie an, ihm Korrekturen zu schicken, ihm zu schreiben, wie groß ihr Vermögen wirklich war. "Es ist nämlich auch ein Kommunikationsmittel der reichen Oberschicht. Man findet sich, man sucht sich selbst, man sieht auch die anderen, man kann sich selbst vergleichen", sagt Gajek.
Die Veröffentlichung des Jahrbuchs war die Geburtsstunde der Reichenlisten: "Mit der Liste Rudolf Martins beginnt eigentlich etwas, was sich durchs ganze 20. Jahrhundert zieht. Und zwar die Frage über das Wissen von Reichtum", sagt Eva-Maria Gajek.
Ganz oben auf der allerersten Liste stand übrigens eine Frau: Bertha Krupp von Bohlen und Halbach. Sie gehörte zu der Familie, deren Stahlwerk im ersten und zweiten Weltkrieg vor allem Waffen produzierte. Ihr Vermögen bezifferte Martin mit 187 Millionen Mark. Ihr Einkommen, das allein aus Dividenden der Aktiengesellschaft Friedrich Krupp bestand, mit 17 weiteren Millionen. Umgerechnet auf heute hatte Frau Krupp die Kaufkraft von 1,03 Milliarden Euro. Die Dividendenerlöse wären heute 93,5 Millionen Euro wert.

Die Neugier ist bis heute geblieben: "Was heute bei der Forbes-Liste noch eine Rolle spielt und was aber auch schon bei Rudolf Martin eine Rolle spielt, ist natürlich dieses: Wer ist es denn nun? Wer ist der Reichste?", sagt Gajek. "Es ist diese Neugier auf die Vermögenden, auf eine gewisse Hierarchisierung. Und mit der hat Martin natürlich auch gespielt." Die letzte Liste von Rudolf Martin stammt aus 1919. Danach passierte erst einmal nichts - bis erste Medien, wie Forbes 1987, wieder damit anfingen, herausfinden zu wollen, wer denn die Reichsten auf der Erde sind. Die Krupps sind es laut den heutigen Listen übrigens nicht mehr. Ganz oben auf der Deutschland-Liste stehen heute die Aldi-Erben auf drei, Klaus-Michael Kühne auf zwei und ganz oben der Discount-König von Lidl und Kaufland, Dieter Schwarz.