Verkehr:Drapeau tricolore gegen Union Jack: Eurotunnel wird 20 Jahre alt

Calais (dpa) - Ohne Schiff oder Flugzeug auf die Insel? Über Jahrhunderte war ein Tunnel zwischen Europa und England nur ein Traum. Kriege, Konflikte und Ressentiments machten das Projekt lange Zeit unmöglich. Vor 20 Jahren wurde dann doch der Eurotunnel eröffnet.

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Calais (dpa) - Ohne Schiff oder Flugzeug auf die Insel? Über Jahrhunderte war ein Tunnel zwischen Europa und England nur ein Traum. Kriege, Konflikte und Ressentiments machten das Projekt lange Zeit unmöglich. Vor 20 Jahren wurde dann doch der Eurotunnel eröffnet.

Mancher Traum braucht dann doch etwas länger, bis er Realität wird. Der erste Entwurf sah noch Pferdekutschen vor, hölzerne Lüftungstürme durch Wassermassen, die Wände des Tunnels von Öllampen erhellt. Irgendwo mitten im Ärmelkanal hatte Albert Mathieu eine künstliche Insel eingeplant - schließlich wären ja die Pferde für die Kutschen zu wechseln gewesen. Der Bauingenieur brachte 1802 zu Zeiten Napoleons seine Vision einer Tunnelverbindung vom Festland nach England zu Papier.

Der einst nur gezeichnete Traum wich vor zwanzig Jahren am 6. Mai 1994 einer handfesten Verbindung zwischen Großbritannien und Frankreich. "Erstmals sind sich die Staatschefs beider Länder begegnet, ohne ein Boot oder das Flugzeug nehmen zu müssen", sagte Queen Elizabeth II. während der Eröffnungsfeier mit dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand in Coquelles an der Festlandküste.

Fürchterliche Kriege, politische Wirren und endlose Konflikte hatten das Projekt lange unmöglich gemacht. Auch die tiefsitzende Angst des Inselvolks vor Invasionen vom Kontinent war für den im Lauf der Jahrhunderte immer wieder angedachten Bau eines Tunnels wenig förderlich. Die als "splendid isolation" bezeichnete privilegierte Insellage war gefährdet.

Erst 1986 unterzeichneten Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher den Eurotunnel-Vertrag. Die Konservative zeigte sich auch hier als "eiserne Lady": Für das knapp 13 Milliarden Euro teure Projekt wurde schon im Vertrag jede Staatshilfe ausgeschlossen.

Die gesamte Infrastruktur für den Tunnel musste ohne Zuschüsse aufgebaut werden. In den Anfangsjahren lagen schwarze Zahlen in weiter Entfernung, der Schuldenberg wuchs auf neun Milliarden Euro. Für die einst 19,36 Euro teure Aktie gab es bald kein Pint mehr in London, später nicht mal mehr einen Kaffee in Paris.

2007 konnte das Unternehmen Eurotunnel nur per Schuldenverzicht der Banken, Umgründung und Kapitalerhöhung gerettet werden. Ein Jahr später brachte das Projekt den Banken und mehr als 600 000 Kleinaktionären erstmals Dividende ein: vier Cent je Aktie.

Sieben Jahre lang wurde der Tunnel durch den Boden unter dem Meer vorangetrieben. Gut 50 Kilometer sind die Röhren lang, davon knapp 38 Kilometer unter dem Meer - das macht den Kanaltunnel zum weltweit längsten Fahrweg unter Wasser.

Die elf Bohrmaschinen arbeiteten sich etwa 75 Meter pro Tag voran. Mit Hilfe dieser gigantischen Kolosse - zusammen knapp schwerer als der Eiffelturm in Paris - wurden die Röhren gleichzeitig gebohrt und ausgeschalt. Das letzte Stück Kalkgestein zum französisch-britischen Tunneldurchbruch erledigten am 1. Dezember 1990 publikumswirksam die Presslufthämmer von Graham Fagg und Philippe Cozette. Die beiden Arbeiter tauschten stellvertretend für rund 13 000 beteiligten Kollegen zur Begrüßung erstmal Fahnen aus: Drapeau tricolore gegen Union Jack.

Der Eurotunnel hat drei Röhren, die in bis zu 45 Metern Tiefe unter dem Boden des Ärmelkanals verlaufen. Durch die beiden äußeren Röhren mit einem Durchmesser von 7,6 Metern verläuft jeweils ein Gleis. Dazwischen liegt ein Sicherheitstunnel mit 4,8 Metern Durchmesser für Rettungsfahrzeuge. Alle 375 Meter gibt es Querverbindungen.

Nach Eröffnung des Tunnels im Mai 1994 sollte es noch Monate dauern, bis die eigens entwickelten 775 Meter lange Züge durch die beiden Fahrröhren rollen konnten. Den Anfangsschwierigkeiten folgten immer wieder Probleme und teils schwere Unfälle, etwa 1996 oder 2008 nach Bränden von Lastwagen im Tunnel.

Hinter den beiden Tunnelausfahrten war die Reisewelt lange Jahre nicht vergleichbar: Während die Züge in Frankreich auf Hochgeschwindigkeitsstrecken gen Eurotunnel rasten, mussten sie nach Kanalunterquerung auf noch nicht ausgebauten britischen Gleisen im gefühlten S-Bahn-Tempo nach London zuckeln. Experten galt der späte Baubeginn der Schnellstrecke in England als sympthomatisch für die kritische Haltung zum Tunnel.

Heute nutzen jährlich mehr als 20 Millionen Passagiere diese Verbindung zwischen Insel und Festlandeuropa. Ein Ticket etwa für die knapp zweieinhalb Stunden mit dem Eurostar von Paris nach London ist von etwa 50 Euro an aufwärts zu haben. Ein Autotransport zwischen Calais und Folkstone gibt es ab etwa 30 Euro, kann aber auch mehr als 200 Euro kosten. Seit Eröffnung hat "Le Shuttle" mehr als 20 Millionen Lastwagen durch den Tunnel transportiert.

Der schnelle Weg auf die Insel und zurück soll künftig noch leichter werden. Als Direktziele sind Genf, Amsterdam, Frankfurt am Main oder Köln geplant.

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