Deutsche Bahn:Wenn der Zug quasi von alleine fährt

Erste digitale S-Bahn in Hamburg gestartet

Die S-Bahn S21 fährt automatisch in den Hamburger Bahnhof Dammtor ein - Premierenfahrt für ein Pilotprojekt

(Foto: Marcus Brandt/dpa)

Die Bahn startet den Einsatz von automatischen Zügen im Passagierverkehr. In ein paar Jahren sollen weite Teile des Schienenverkehrs in Deutschland folgen.

Von Markus Balser, Hamburg

Dass an diesem Vormittag vom Hamburger Bahnhof Dammtor eine Vision losrollt, ist für Passagiere am Gleis kaum zu erkennen. Der Triebwagen vom Typ 474 sieht eher nach Pendlerschreck aus als nach Revolution. Nur die Zuganzeiger am Gleis machen klar, dass da am Montag keine normale S-Bahn der Linie 21 abfährt, sondern eine "Weltpremiere".

Beschleunigt von einer Maschine, gesteuert von Algorithmen, gebremst von Computerchips. Die S-Bahn nach Bergedorf ist Teil des wichtigsten Pilotprojekts für automatischen Zugverkehr in Deutschland. Die Deutsche Bahn und Siemens haben mehrere Züge der Hamburger S-Bahn digital so hochgerüstet, dass sie automatisch unterwegs sein können. Am Montag rollte der erste mit Passagieren an Bord über die 23 Kilometer lange Teststrecke in die Vororte der Hansestadt. Zum Fahrplanwechsel am 12. Dezember werden die Züge den regulären Passagierbetrieb aufnehmen.

Die digitalen S-Bahnen stehen für ein gigantisches Vorhaben. Als erstes will der Konzern in einigen Jahren die S-Bahn in der Hansestadt auf digitalen Betrieb umstellen, in den nächsten 15 bis 20 Jahren dann weite Teile des gesamten Schienenverkehrs in Deutschland. Rund 35 Milliarden Euro soll der Einstieg in die Digitalisierung des Bahnnetzes den Beratern von McKinsey zufolge in den nächsten Jahren kosten. Es geht um eines der größten Infrastrukturprojekte des Landes schlechthin.

Im Cockpit des Prototypen wird klar, was sich ändert. Schalten die Lokführer per Knopfdruck in den automatischen Zugbetrieb, können sie die Hände in den Schoß legen. Die Züge beschleunigen und bremsen automatisch. Sie berechnen die Haltezeit an den Bahnhöfen, öffnen und schließen die Türen. Ganz ohne Lokführer aber geht es trotzdem nicht. Denn passiert Unvorhersehbares, laufen etwa Menschen auf dem Gleis, muss das menschliche Personal sofort übernehmen.

Bald könnte es ganz ohne Lokführer gehen

Am Montag sitzt Lokführerin Valeska Hoop im Cockpit. Eine Erleichterung sei die Technik. Angst um ihren oder den Job der 20 000 Kollegen in Deutschland habe sie nicht, sagt Hoop. Noch gehe es ja gar nicht ohne sie. Die Züge des Projekts werden zwar mit elektronischen Informationen über die Strecke und andere Züge versorgt, haben aber keine Sensoren, um etwa Gegenstände auf der Trasse zu erkennen. Fachleute aber sehen durchaus die Möglichkeit, dass sich das ändert und die Züge bis Ende des Jahrzehnts auch ohne dauerhaft anwesendes Personal im Cockpit unterwegs sein können. Die Technik werde ständig weiter entwickelt, heißt es in der Industrie. Auch Gewerkschaften fürchten bereits um Jobs, wollten sich am Montag aber offiziell nicht dazu äußern.

Es drohen Konflikte, denn die Deutsche Bahn würde gerne das gesamte Netz, also den Fern-, Nah- und Güterverkehr so schnell wie möglich digitalisieren. Vor allem aus einem Grund: Das Netz stößt vielerorts an Grenzen. An Bahnknotenpunkten wie Mannheim, Köln oder Frankfurt geht mit herkömmlichen Mitteln einfach nicht mehr Verkehr. Die digitale Aufrüstung könnte das ändern. Weil Behörden der Technik mehr zutrauen als dem Menschen, darf die Bahn digital gesteuert in engerem Takt fahren. Bis zu 30 Prozent mehr Züge könnten so auf dem gleichen Netz unterwegs sein, sagt Bahnchef Richard Lutz: "Ohne auch nur ein neues Gleis zu verlegen." Die Automatik soll zudem helfen, 30 Prozent Energie zu sparen und 15 Prozent pünktlicher zu werden.

Doch abseits der Prestigevorhaben wie in Hamburg herrscht in Teilen der Bahn Frust über das Tempo der Digitalisierung im eigenen Konzern. Die Pläne gibt es schon seit Jahren. Doch bei der Umsetzung geht es nur langsam voran. Mit der geplanten flächendeckenden Einführung des europäischen Zugsicherungssystems ETCS - der Basis für den automatischen Verkehr - hat die Bundesregierung nach eigenen Angaben 2015 begonnen. Weit gekommen ist sie in den vergangenen sechs Jahren nicht. Nach aktuellen Angaben sind nur 340 Kilometer umgerüstet - also ein Prozent des Netzes. Weitere Pilotprojekte sind geplant, der große Wurf ist das bislang noch nicht.

Experten übten zuletzt harte Kritik am Tempo des Umbaus. Heike van Hoorn etwa, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrsforums (DVF), machte klar, was das Bummeltempo bedeutet: "Die Digitalisierung der Schiene ist die Voraussetzung dafür, dass wir das Ziel der Verdoppelung der Fahrgastzahlen und mehr Güter auf der Schiene bis 2030 überhaupt schaffen können." Und die soll helfen, die deutschen Klimaziele einzuhalten.

Dabei ist die Technik eigentlich schon im Einsatz. Wer wissen will, was technisch machbar ist, muss noch unter die Erde gehen: In 16 europäischen Städten von Kopenhagen bis Turin fahren U-Bahnen oder Flughafen-Züge komplett automatisiert. In London wird die U-Bahn in den nächsten Jahren umgestellt. Und auch in Deutschland gibt es erste Beispiele: Seit einigen Jahren verkehren in Nürnberg U-Bahn-Linien fahrerlos. Der positive Effekt aus Sicht der Betreiber: Die Züge sind nach Angaben der Stadt fast zu 100 Prozent pünktlich, verbrauchen wegen optimierten Fahrstils weniger Energie.

Oberirdisch, wo viel mehr Einflüsse den Verkehr stören können, waren bislang im Passagierverkehr keine vollautomatischen Züge unterwegs. Die am Montag von Bahn und Siemens präsentierte Technik soll das ändern. Siemens-Chef Roland Busch bezeichnete sie als "Blaupause für die Digitalisierung der Schiene in Deutschland, Europa und der ganzen Welt". Sie ist vom Eisenbahnbundesamt auch für breitere Einsätze zugelassen.

Auch andernorts in Europa liegen Pläne für automatische Züge in der Schublade. Mit der französischen Staatsbahn SNCF hat die Deutsche Bahn bereits eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie vereinbart. Sie sieht vor, dass Deutsche und Franzosen gemeinsam den fahrerlosen Zug entwickeln.

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