Vereinbarkeit:Sohn auf dem Schoß: Immer noch eine Sensation

Vereinbarkeit: Anton Hofreiter im EU-Ausschuss des Bundestages.

Anton Hofreiter im EU-Ausschuss des Bundestages.

(Foto: Screenshot: Bundestags-TV)

Grünen-Politiker Anton Hofreiter leitet eine Ausschusssitzung, und sein Sohn ist dabei. Die Reaktionen zeigen: Das Kind mal in die Arbeit mitzubringen, ist immer noch nicht normal.

Von Helena Ott

Am Montag schaffte es Anton Hofreiter mit der Leitung einer Sitzung des Europaausschusses im Bundestag unter die meist kommentierten Inhalte in den sozialen Medien. Was eigentlich nicht nach einem populärem Twitter-Thema klingt, wurde dazu - durch einen hellblonden kleinen Jungen auf dem Schoß des Grünen-Politikers. Das einjährige Kind mit Spielzeuglaster und gelber Trinkflasche ist Hofreiters Sohn, das Foto des Vater-Sohn-Gespanns hatte ein Mitarbeiter des Bundestags auf Twitter veröffentlicht.

Die knapp tausend Kommentare sind mehrheitlich wohlwollend. Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Universität München, twittert gar: "Liebe alles an dem Bild." Andere loben, Hofreiter setze "ein wichtiges Signal für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie". Es gab aber auch kritische bis bissige Reaktionen: etwa, wer denn den Müttern applaudiert hätte, denen während des Lockdowns die Kinder durch die Videokonferenz gelaufen seien. Andere kritisieren, dass über Frauen, die ihre Kinder mal zur Arbeit mitbringen würden, schnell geraunt werde, dass sie es es nicht hinbekämen, Beruf und Betreuung anständig zu regeln.

Beide Perspektiven auf den männlichen Bundespolitiker mit Kind auf dem Schoß zeigen vor allem eins: dass es nicht normal ist, sein Kind mit zur Arbeit zu bringen. Zwischenfälle, die das nötig machen, gibt es im Elternleben dagegen fast regelmäßig: Das Kitapersonal streikt, die Partnerin oder der Partner ist spontan verhindert, in der Kita gibt es Läuse.

Und für Menschen mit einem Arbeitsort abseits des Schreibtischs ist die Aufregung um das Foto sowieso irrelevant oder ärgerlich. An der Realität von Busfahrerinnen, Physiotherapeuten, Pflegern und Elektronikerinnen geht es weitgehend vorbei, mit Kind auf dem Schoß arbeiten zu können. Wenn sie Betreuungsengpässe haben, müssen sie Ersatz suchen, zu Hause bleiben, Babysitter bezahlen. Was sie brauchen: sicherere, bezahlbare Kitaplätze in ihrer Nähe. In einer Befragung des Paritätischen Gesamtverbands gehen 60 Prozent der befragten Erzieherinnen und Erzieher davon aus, dass es in ihren Kommunen nicht ausreichend Kita-Plätze gibt. Noch deutlicher wird es bei der Betreuung von Grundschülern. Hier fehlten im vergangenen Sommer mehr als 600 000 Ganztages-Betreuungsplätze. Arbeitnehmer, die nicht ins Büro gehen, messen Politikerinnen und Politiker eher an praktischen Verbesserungen in ihrem Alltag als an Kinderfotos. So süß die Kleinen auch sind.

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