Autoindustrie:"Es fahren ja nicht alle 200"

VDA-Präsidentin Hildegard Müller

Einst Lobbyistin der Energiewirtschaft, mittlerweile für die Autoindustrie tätig: Hildegard Müller.

(Foto: Carsten Koall/picture alliance/dpa)

Deutschlands oberste Autolobbyistin Hildegard Müller will in der Energiekrise unangenehme Diskussionen führen - aber nicht über das Tempolimit.

Interview von Max Hägler

Mehr als 1400 Aussteller aus 42 Ländern: Die soeben zu Ende gegangene Nutzfahrzeug-IAA in Hannover war mit all den Trucks, Lastenrädern und Bussen, viele davon elektrisch angetrieben, ein Schaulaufen einer neuen, besseren Mobilität. Doch wird das schnell Realität? Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), hat da angesichts der politischen Lage in Europa zumindest Zweifel.

SZ: Frau Müller, Lastwagen und Busse sind ein wichtiger volkswirtschaftlicher Frühwarn-Indikator: Werden die Flotten erneuert, dann floriert ein Land und andersherum. Wo steht der Indikator?

Hildegard Müller: Noch werden angestaute Aufträge abgearbeitet, die vor allem wegen des Halbleitermangels und des Rohstoffmangels warten mussten. Aber die neuen Aufträge gehen spürbar zurück, das haben mir viele Hersteller gesagt. Man merkt in dieser Branche, dass sich die volkswirtschaftlichen Erwartungen gerade wöchentlich verschlechtern - und dass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Neukäufen zögern.

Wie schlimm ist die Lage?

Es geht nicht nur um den verhaltenen Absatz. Vor allem die Zulieferer leiden unter den galoppierenden Kostensteigerungen, insbesondere bei der Energie. Zehn Prozent unserer Mitgliedsunternehmen haben bereits jetzt Liquiditätsprobleme, ein weiteres Drittel erwartet signifikante Liquiditätsprobleme in den kommenden Monaten. Die Hälfte unserer Mitglieder hat deshalb bereits geplante Investitionen gestrichen oder verschoben - und mehr als ein Fünftel verlagert nun ins Ausland.

Eine paradoxe Situation: Den Fahrzeughersteller, egal ob im Pkw- oder im Lkw-Bereich, verbuchen ordentliche Gewinne, die Zulieferer klagen aber immer lauter. Droht ein Bruch zwischen Ober und Unter?

Man geht in der Branche anständig miteinander um. Gleichzeitig kann die Beziehung zwischen Herstellern und Zulieferern, egal wie gut sie ist, nicht ausgleichen, was gerade an Achsenverschiebung aufgrund der Kostensteigerungen stattfindet: Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland verschlechtert sich in einer dramatischen Geschwindigkeit. Zur Wahrheit gehört dabei, dass die Hersteller ihr Geld in erheblichem Umfang in ausländischen Märkten - außerhalb Europas - verdienen, ihre Gewinne aber sehr stark für die Transformation einsetzen und dadurch Rekordsummen investieren können.

Die Politik will ja gegensteuern, etwa mit dem Instrument der "negativen Gewinne", das die Steuerlast senkt.

Ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was die Industrie jetzt braucht. Zudem sind auch noch zu viele Fragen offen: Wann wird der negative Gewinn festgestellt? Mit der Steuerbilanz, mit der Quartalsbilanz? Das sind ja nachlaufende Instrumente, dabei wird jetzt gerade Liquidität aus den Unternehmen rausgezogen, deren Lage sowieso angespannt ist. Und wir wissen aus der Corona-Zeit, dass nachlaufende Instrumente nicht das beste Mittel sind: Da haben manche Unternehmen über ein Jahr gewartet. Jetzt gilt: Wir müssen vor allem schnell bei den Energiekosten ansetzen.

Sie haben große Expertise im Energiebereich, was sind Ihre Vorschläge?

Wir müssen vor allem runter mit Steuern, Abgaben und Umlagen. Ganz konkret muss die Stromsteuer sofort gesenkt werden. Hinzu kommt: Wir sollten alles ans Netz nehmen, was Strom produzieren kann, je mehr Angebot, desto günstiger der Preis. Entscheidungen müssen jetzt schnell und gleichzeitig wohlüberlegt getroffen werden: Für das Konzept der Gasumlage etwa wurden die Wirtschaftsverbände nur sechs Stunden angehört, die Kritik ist nicht konstruktiv aufgenommen worden. Jetzt zeigen sich die Schwächen der Umlage und sie wird offenbar neu diskutiert. Bei einigen Unternehmen ist übrigens bereits großer Schaden entstanden, da sie bei Ausschreibungen gegen ausländische Konkurrenz mit geringeren Energiekosten verloren haben. Und grundsätzlich gilt: Geschlossen agieren. Wir brauchen weniger Einzelvortrag, mehr gemeinsames Handeln: Egal ob bei der Gasumlage oder eben der Frage der Mittelstandsentlastung. Ein Ministerium, das aufs andere verweist - das kann sich Deutschland jetzt nicht leisten.

Wir brauchen mehr Strom, also auch einen längeren Betrieb von Atomkraftwerken?

Kanzler Scholz hat betont: "Whatever it takes." Alle Energieträger müssen laufen. Wenn Hindernisse ins Feld geführt werden, dann muss man diese politisch lösen. Es werden auf Dauer aber auch unbequeme Diskussionen zu führen sein. Wir nehmen gefracktes Gas aus allen Teilen der Welt, aber wir selbst lehnen schon die Debatte über Fracking bei uns ab. Bisher konnten wir in Deutschland Unbequemes auslagern - das geht nicht mehr. Fakt ist: In Zukunft werden wir uns wieder selbst mehr helfen müssen. Dabei gilt: Wir müssen die Debatten entideologisieren. Es werden harte Zeiten auf uns zukommen.

Dann sperren Sie sich sicher auch nicht gegen ein generelles Tempolimit für ein halbes Jahr. Als klare Botschaft: Alle müssen erkennen, dass wir Energie nicht rausblasen können.

Da liegt die Einsparung weit hinter dem, was man sich vorstellt, denn es fahren ja nicht alle 200. Und Verhaltensänderungen als Reaktion auf die aktuelle Lage sind schon deutlich spürbar. Zudem liegen Vorschläge für eine digitale Regelung des Verkehrs von uns auf dem Tisch.

Aber haben Sie nicht gesagt: Whatever it takes?

Ich habe Herrn Scholz zitiert (lacht). Im Ernst: Die Menschen sind weiter als die Politik, sie wissen selbst wie man klug spart. Sollen wir nun jeden Bereich durchdeklinieren? Habe ich die Heizung schon auf 2 runtergedreht, dusche ich nur eine Minute, fahre ich nur 100? Viele Menschen erleben einen drastischen Konsumschock, da braucht es keine Belehrungen: Der untere Mittelstand rutscht ab und der obere Mittelstand hat massiv die Sorge: Werde ich mir noch etwas leisten können? Mit erzählen die Logistiker: Die Menschen bestellen erheblich weniger im Online-Handel, Paketauslieferungen gehen massiv zurück.

Was bedeutet die Energiekrise für die Dekarbonisierung des Verkehrs? In Brüssel wird ja derzeit abschließend im sogenannten Trilog-Format über das Verbrennerverbot verhandelt.

Wir sehen hier noch keine ausreichenden Antworten auf wichtige Fragen: Mit Blick auf die 280 Millionen Autos, die auf den Straßen der EU fahren, gibt es noch keine Idee, wie diese ihren Beitrag zum klimaneutralen Verkehr leisten können. Zu synthetischen Kraftstoffen ist trotz klarer Aufgabenstellung noch nichts vorgelegt. So läuft derzeit alles auf Verbote hinaus. Und da sagen dann irgendwann auch die Bürgerinnen und Bürger: Das unterstütze ich nicht, das ist doch lebensfern!

Und es gibt nun noch viel mehr als noch vor dem Krieg die Frage, wie schnell sich die Infrastruktur aufbauen lässt. Wie viel Geld können etwa die Stadtwerke gerade in den Ausbau von Stromnetzen stecken? Abseits der wenigen Vorzeigeländer ist die Situation in der EU dramatisch: Hamburg hat doppelt so viele öffentliche Ladesäulen wie ganz Griechenland. Es ist in der jetzigen Situation nicht absehbar, dass Europa in Summe in der Lage ist, die notwendige Infrastruktur aufzubauen. Es reicht also nicht aus, zu sagen: Wir haben 2035 als Enddatum, der Markt regelt das schon. Das Mindeste ist, dass wir das jedes Jahr sehr nüchtern evaluieren: Kommen wir dem Ziel wie geplant näher? Und dann können Anpassungen frühzeitig vorgenommen werden.

Ihrer Industrie würde es natürlich gefallen, wenn die Verbrenner noch länger laufen dürften.

Im Gegenteil! Und eines ist ganz wichtig: Wir sollten uns gegenseitig abnehmen, dass wir ein Interesse an Klimaschutz haben. Diese Industrie - ob Hersteller, Zulieferer oder auch Transporteure und Verkehrsbetriebe - will beweisen, dass Transformation auch wirtschaftlich erfolgreich ist. Auf der IAA gerade habe ich viel Stolz gefühlt und beeindruckende Ideen gesehen. Die Investitionen sprechen für sich: 220 Milliarden in Forschung und Entwicklung bis zum Jahr 2026, weitere 100 Milliarden in den Umbau von Werken bis 2030. Die Industrie ist der Politik voraus. Entscheidend ist jetzt, dass auch die Politik die Rahmenbedingungen endlich angeht - und nicht nur immer neue Ziele setzt.

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