Süddeutsche Zeitung

Schmerzmittel-Sucht:Das US-Gesundheitssystem ist verkorkst und zynisch

Skrupellose Pharmafirmen lösten eine Opioid-Epidemie aus, jetzt sollen Entschädigungen fließen. Doch davon werden die Opfer nicht viel haben. Der Kapitalismus ist wichtiger als die Fürsorge.

Kommentar von Claus Hulverscheidt, New York

Wenn in Deutschland die Rede auf die Opioid-Krise kommt, die seit zwei Jahrzehnten die USA heimsucht, schalten viele Menschen gleich auf Durchzug. Opioid-Krise, das klingt nach Unterschicht, nach "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", nach starr blickenden, ausgemergelten Gestalten, die die schlechter ausgeleuchteten Teile der Städte bevölkern. Kurzum: nach einer Schmuddelwelt, mit der man nichts zu tun haben möchte.

Die Realität sieht ganz anders aus. Es sind in den USA meist nicht Verzweiflung oder Neugier, die Menschen zu Abhängigen machen, es sind skrupellose Pharmafirmen, korrumpierte oder ignorante Ärzte und wegschauende Politiker, die dafür sorgen, dass fast jeder, den es nur leicht zwickt, irgendwann mit opioidhaltigen Schmerzmitteln in Berührung kommt. Mehr als 400 000 Menschen sind seit Mitte der Neunzigerjahre deshalb gestorben, auch heute noch sind es über 100 pro Tag.

Es trifft Mittelschichteltern und ihre Kinder, Schwangere und werdende Väter, Großeltern und Enkel, Sportkameraden, Kegelbrüder und Bridge-Clubs. Es gibt Orte in den USA, in denen jeder Einwohner mindestens einen kannte, der an Opioiden starb. Es gibt Rettungssanitäter, die tagein, tagaus nichts anderes tun, als zu versuchen, Menschen, die eine Überdosis genommen haben, zurück ins Leben zu holen. Und es gibt die Footballmannschaft einer Highschool aus Kentucky, deren Spieler bei Verletzungen oft Opioide erhielten: Wenige Jahre später war fast die Hälfte der Ex-Teenager süchtig oder tot.

Die Opioid-Epidemie, sie ist kein Randphänomen, sie ist der am stärksten unterschätzte Gesundheitsskandal der westlichen Welt, ein empörendes Unrecht, eine ständige Anklage gegen die USA und eine fehlgeleitete Form des Kapitalismus.

Im Mittelpunkt stehen der Pharmariese Purdue und seine Eigentümer, die Sacklers. "Die Familie, die ein Imperium des Schmerzes schuf" titelte das Magazin New Yorker schon 2017, man könnte auch sagen: Die Milliardäre, die den Tod brachten. Purdue entwickelte vor 25 Jahren das Medikament Oxycontin, einen chemischen Verwandten des Heroins, und setzte seine Verbreitung als wirksames, angeblich ungefährliches Schmerzmittel mit einer gewaltigen Werbekampagne, Geschenken an Ärzte und verharmlosenden Beipackzetteln durch. Obwohl manche Patienten schon nach wenigen Pillen süchtig waren, obwohl bald ein Schwarzmarkt entstand und viele Kunden schließlich aus Geldnot auf billigeres Heroin umstiegen, blockte Purdue jahrelang jede Kritik ab.

Jetzt endlich ist der Druck so groß geworden, dass die Sacklers einknicken: Sie bieten mehr als 2000 klagenden Bundesstaaten und Kommunen Vergleichszahlungen in Gesamthöhe von gut elf Milliarden Dollar an. Nach zwei Jahrzehnten des Leugnens und der Einschüchterungsversuche ist das ein großer Fortschritt, zweifellos. Und doch ist erhebliche Skepsis angebracht. Die Frage nämlich, wie viel von einer solchen Entschädigung tatsächlich bei den Patienten oder den Angehörigen der Verstorbenen ankäme, ist völlig offen. Allzu viel, so viel steht schon fest, wird es nicht sein, denn auch wenn die Summe gewaltig klingen mag: Umgerechnet auf alle Oxycontin-Fälle ergibt sich ein Pro-Kopf-Betrag, der eher lächerlich ist. Auch stellt sich die Frage, ob das Privatvermögen der Sacklers nicht stärker herangezogen werden müsste. Nach allem, was man bisher weiß, werden sie Milliardäre bleiben.

Ein Land, in dem mangelnde ärztliche Fürsorge als Freiheit verklärt wird

Wer in den USA zum Arzt geht, bekommt bis heute selbst bei geringfügigen Beschwerden oft ein Antibiotikum oder ein Opioid verschrieben. Spricht man den Arzt auf die Gefahren solcher Schocktherapien an, dann verweist er auf den Beipackzettel und den mündigen Patienten.

Das sagt viel aus über das Land und den grenzenlosen Individualismus, an den so viele Amerikaner glauben. Ein Land, in dem das Recht auf Selbstbestimmung oft als Freifahrtschein für bedingungsloses Geldverdienen fehlinterpretiert wird. In dem staatliche Aufsicht als staatliche Gängelung gilt und Patientenschutz als Investitionshemmnis. In dem mangelnde ärztliche Fürsorge als Freiheit verklärt wird und arme Menschen ohne Krankenversicherung möglichst nicht in die Notaufnahme einer Klinik gehen, weil selbst die fünfminütige Abtast-Untersuchung, ob der Arm des Kindes nun gebrochen ist oder nur verstaucht, 2000 Dollar kostet.

Im Kampf gegen die Opioid-Epidemie haben seit 1995 alle US-Regierungen jämmerlich versagt, egal ob sie von Demokraten oder Republikanern geführt wurden, ob der Präsident Obama hieß oder Trump. Dabei ist die Krise nur der sichtbarste Ausdruck eines insgesamt total verkorksten, ja zynischen Gesundheitssystems.

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SZ vom 29.08.2019/vd
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