Süddeutsche Zeitung

Amazon:Wenn der Kunde der Hofnarr ist

Lesezeit: 4 min

Missbraucht Amazon seine Macht, um von seinen Händlern höhere Preise auf anderen Plattformen zu verlangen? Eine Klage des US-Bundesstaates Kalifornien könnte Verbrauchern helfen, die ohnehin unter der Inflation leiden.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Man fragt sich ja schon immer wieder mal: Wie machen die das nur bei Amazon? Man sieht ein Produkt auf der Webseite eines Herstellers, und dann findet man dieses Produkt bei Amazon - ein wenig billiger, dazu kostenfreier Versand für Prime-Mitglieder, von denen es weltweit mehr als 200 Millionen gibt. Es wird nachvollziehbar, sieht man sich die Dimensionen des weltweit größten Amazon-Lagerhauses (372 000 Quadratmeter) an, das derzeit in der kalifornischen Stadt Ontario gebaut wird; die Kleinlaster, die durch die Straße fahren und die schiere Anzahl an Paketen, die beim Nachbarn vor der Tür liegen. Man denkt sich: Okay, die sind logistisch derart effizient, dass sie einfach günstiger sein können.

Das mag sein, doch gibt es offenbar noch einen anderen Grund, und deshalb hat US-Bundesstaat Kalifornien den Konzern nun verklagt: Amazon würde seine Marktmacht missbrauchen, von Händlern über die Geschäftsbedingungen zu verlangen, auf allen anderen Plattformen höhere Preise zu fordern. Also nicht nur bei Amazon-Konkurrenten wie Walmart, Target oder Ebay, sondern auch auf ihren eigenen Online-Shops. Einer Studie der Analysefirma Insider Intelligence zufolge werden etwa 38 Prozent aller Online-Verkäufe in den USA über Amazon abgewickelt.

Nun könnte man fragen: bei Amazon günstiger, bei allen anderen teurer - wo ist da der Unterschied? "Händler legen für Produkte, die sie bei uns anbieten, ihre eigenen Preise fest", heißt es im Statement, das Amazon als Reaktion auf die Klage verschickt hat. Nun, es gibt da einen gewaltigen Unterschied, letztlich geht es in der 84-seitigen Klageschrift, die der SZ vorliegt, einzig darum - nämlich um Marktmacht beim Endkunden. Deshalb wird in der Klage eine Studie der Analysefirma Feedvisor zitiert, der zufolge 74 Prozent der Leute direkt zu Amazon gehen, wenn sie ein Produkt kaufen wollen.

Im vergangenen Jahr nämlich wurde in der US-Hauptstadt Washington eine ähnliche Klage abgewiesen mit der Begründung, dass Händler ihre Waren verkaufen können, wo immer sie wollen; und dass sie es ja nicht auf der Amazon-Plattform tun müssten, wenn ihnen dort die Bedingungen nicht zusagten. Das entsprach, vereinfacht formuliert, der Amazon-Lesart. Da hilft es auch nicht, wenn in der aktuellen Klage Händler zitiert werden mit: "Es gibt keine andere Plattform, und Amazon weiß das." Und: "Es gibt nun mal keine Alternative."

Der Generalstaatsanwalt spricht von "erzwungenen Vereinbarungen"

Die aktuelle Klage ist juristisch wie moralisch interessant. "Amazon zwingt Händler zu Vereinbarungen, die Preise künstlich hoch zu halten - wohl wissend, dass die nicht Nein sagen können", sagt der kalifornische Generalstaatsanwalt Rob Bonta. Da andere E-Commerce-Plattformen mit Amazon-Preisen nicht mithalten könnten, werde Amazon zum Ein-Stopp-Shop für die Kunden. "Schon seit Jahren zahlen Kalifornier mehr für Online-Einkäufe wegen wettbewerbswidriger Geschäftspraktiken von Amazon." Höhere Preise deshalb, weil Amazon der Klage zufolge wegen seiner Marktmacht höhere Gebühren verlangt.

Das ist der springende Punkt, und der ist wichtig im US-Wettbewerbsrecht: Es geht nicht um Händler, sondern um Endkunden. Deshalb sind auch Timing und Formulierung der Klage bedeutsam: Kalifornier, ohnehin gebeutelt von der Inflation, müssten wegen der Geschäftspraktiken von Amazon viel mehr bezahlen. Das wäre neben möglichen juristischen Konsequenzen ein PR-Problem für Amazon. Im Statement des Konzerns steht: "Amazon ist stolz darauf, durch die Bank niedrige Preise anzubieten; wie jedes Geschäft behalten wir uns vor, Angebote nicht hervorzuheben, wenn der Preis nicht konkurrenzfähig ist." Schon immer rühmt sich der Konzern dafür, dass der Kunde König sei. Eine Klage, in der steht, dass der Kunde eher Hofnarr sein könnte, wäre ein PR-Desaster.

Eine Datenanalyse der Generalstaatsanwaltschaft habe jedoch ergeben, dass Händler ihre Preise für Amazon nicht gesenkt - sondern sie überall sonst erhöht haben. Wer das nicht tat, soll nicht nur nicht mehr prominent gezeigt, sondern auch suspendiert oder hinausgeworfen worden sein. "Ohne freien Wettbewerb, bei dem verschiedene Online-Händler über niedrigere Preise miteinander konkurrieren, werden die Preise künstlich höher gehalten, als es bei intensivem Wettbewerb der Fall wäre", sagt Generalstaatsanwalt Bonta, der sich mit Klagen gegen Instagram oder Tiktok zuletzt als Kämpfer fürs Volk gegen Big-Tech-Konzerne profiliert hat. Amazon habe diese Position nicht erreicht, weil es ein effizienterer Händler oder Marktplatz sei, "sondern über erzwungene Vereinbarungen".

"Wir könnten Produkte zu niedrigeren Preisen anbieten."

In der Klage werden deshalb Händler zitiert, die dieser Argumentation der Staatsanwaltschaft auf Kundenseite Gewicht verleihen: "Wir zahlen weniger Gebühren auf unserer oder anderen Webseiten; wir könnten Produkte zu niedrigeren Preisen anbieten." Sie würden es indes nicht tun, weil sie dann nicht mehr in den Kaufempfehlungen der Plattform auftauchten - was bedeutet: Sie existieren quasi nicht mehr auf Amazon.

Bonta fordert, dass Amazon seine Geschäftspraktiken in Kalifornien - wo immerhin 25 Millionen Prime-Kunden leben - ändert und dass es Entschädigungen zahlt. Eine konkrete Summe wird nicht genannt. Auf SZ-Nachfrage hieß es, dass die nicht gefordert wurde und dass man damit rechne, dass sich dieser Fall hinziehen könne. Amazon nämlich argumentiert genau andersherum, wie aus dem Statement hervorgeht: "Die Forderungen der Staatsanwaltschaft würden Amazon zwingen, den Kunden höhere Preise vorzusetzen - was gegen eines der Grundprinzipien des Kartellrechts verstoßen würde." Das Unternehme hoffe deshalb, dass die Klage abgewiesen werde.

Der Fall, wenn auch auf Kalifornien beschränkt, dürfte weite Kreise ziehen. In Washington kündigte die Staatsanwaltschaft an, gegen das Urteil aus dem vergangenen Jahr Berufung einlegen zu wollen; dazu ermittelt die Bundesbehörde FTC wegen des Zukaufs von Gesundheitsdienstleister One Medical für 3,9 Milliarden Dollar und Details beim Anmelden und Kündigen von Prime-Accounts. In Europa gibt es zwei Kartellverfahren - eines wegen möglichen Missbrauchs der Marktmacht, eines wegen des Verdachts, Amazon würde sich bei Kaufempfehlungen (der sogenannten "Buy Box") selbst bevorzugen. Amazon hatte Änderungen angeboten, die Entscheidung der EU-Kommission darüber wird im Herbst erwartet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5657591
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.