Geldpolitik:Der "Teflon-Arbeitsmarkt" gibt Rätsel auf

Geldpolitik: Ein Auszubildender in einem Stahlwerk in Ohio: Trotz drohender Rezession können sich die meisten US-Arbeitnehmer ihrer Jobs noch sicher sein.

Ein Auszubildender in einem Stahlwerk in Ohio: Trotz drohender Rezession können sich die meisten US-Arbeitnehmer ihrer Jobs noch sicher sein.

(Foto: Megan Jelinger/AFP)

Obwohl die US-Notenbank den Leitzins auf den höchsten Stand seit Ende 2007 anhebt, bleibt die Erwerbslosenrate niedrig. Fed-Chef Powell und seine Mitstreiter stecken dennoch in der Zwickmühle.

Von Claus Hulverscheidt

Es waren zunächst nur recht kleine Zahlen, die da über den Sommer vermeldet wurden. Nach der zehnten oder elften fast gleichlautenden Pressemitteilung aber, in der ein Betrieb den Abbau von Stellen ankündigte, begann in Washington doch das große Grübeln: Rollt da eine Kündigungswelle auf das Land zu, die man nur deshalb vom Ufer aus nicht sieht, weil sie noch dabei ist, sich aufzutürmen? Ist das die Folge der Bemühungen der US-Notenbank (Fed), den massiven Lohn- und Preisdruck zu dämpfen? Kühlt also der so ungeheuer heiß gelaufene amerikanische Job-Markt tatsächlich langsam ab?

Wenige Wochen später weiß man: Es war wohl keine Welle, sondern eher eine sanfte Dünung, denn der Arbeitsmarkt präsentiert sich im Herbst mit einer historisch niedrigen Erwerbslosenquote von gerade einmal 3,5 Prozent unverändert robust. Für die Fed ist das eine gute wie schlechte Nachricht zugleich. Gut, weil ihr Kurs aggressiver Leitzinserhöhungen entgegen manchen Prognosen bisher nicht zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hat und der Chor der Notenbankkritiker insbesondere aus den Reihen der regierenden Demokratischen Partei deshalb noch recht leise ist. Und schlecht, weil die jüngsten Daten signalisieren, dass weitere kräftige Zinsschritte notwendig sein werden, um die Spirale aus Konsumlust, hohen Preisen, starker Arbeitskräftenachfrage und kräftig steigenden Löhnen zu durchbrechen. Oder anders gesagt: Auch nach mittlerweile sechs Zinserhöhungen binnen sechs Monaten ist das Inflationsproblem in den Vereinigten Staaten ungelöst.

Dabei sind die US-Währungshüter seit dem Ende der Null-Zinspolitik im März so aggressiv vorgegangen wie keine andere große Notenbank der Welt. Am Mittwoch hoben sie ihren wichtigsten Leitsatz, die sogenannte Tagesgeldzielspanne, erneut um 0,75 Punkte auf jetzt 3,75 bis 4,0 Prozent an. Der Korridor liegt damit so hoch wie seit Ende 2007 nicht mehr. Experten erwarten für Dezember einen weiteren Schritt um mindestens einen halben Punkt.

Ohne Dämpfung der Arbeitskräftenachfrage wird die Inflation kaum sinken

Für Fed-Chef Jerome Powell und seine Mitstreiter hat die gegenwärtige Situation etwas von einer Zwickmühle. Keiner von ihnen möchte durch allzu aggressive Schritte die Konjunktur vollständig abwürgen und die Erwerbslosigkeit stärker als nötig nach oben treiben. Zugleich wird eine Senkung der Inflationsrate von zuletzt 8,2 Prozent ohne Dämpfung der Konsum- und Arbeitskräftenachfrage nicht gelingen, denn anders als in Deutschland und Europa ist in den USA nicht Energieknappheit der wichtigste Preistreiber, sondern die ungebrochene Kauflaune der Bürgerinnen und Bürger. Sie war durch die generösen Corona-Hilfspakete der Regierung von Präsident Joe Biden in den vergangenen 20 Monaten noch kräftig befeuert worden.

Rein theoretisch gesehen ließe sich die Zwickmühle leicht auflösen, denn die Fed-Oberen haben einen Vorteil, den ihre Vorgänger nie hatten. Frühere wirtschaftliche Abschwünge nämlich gingen praktisch immer mit einem deutlichen Anstieg der Erwerbslosigkeit einher, weil die Firmen versuchten, sinkende Umsätze durch geringere Lohnkosten auszugleichen. Das ist diesmal nicht so, im Gegenteil: Viele US-Arbeitgeber sind derzeit sehr darum bemüht, einen Fehler zu vermeiden, den sie zu Beginn der Corona-Pandemie zuhauf begangen hatten. Damals entließen sie 25 Millionen Beschäftigte, nur um wenige Monate später im Wiederaufschwung entsetzt festzustellen, dass dieselben Menschen häufig nicht in ihre alten Jobs zurückwollten. Zahllose Firmen, allen voran die Gastronomie- und Freizeitbranche, leiden deshalb bis heute unter einem eklatanten Fachkräftemangel. Statt vorbeugend Mitarbeiter zu entlassen, halten viele Betriebe daher diesmal an ihren Beschäftigten fest.

Die Zahl der offenen Stellen ist zuletzt sogar wieder gestiegen

Für Powell und seine Getreuen bedeutet das, dass sie die Zinsen erhöhen, kreditfinanzierte Käufe verteuern, die Nachfrage nach Arbeitskräften dämpfen und den Lohndruck minimieren können, ohne befürchten zu müssen, dass die Arbeitslosenquote gleich durch die Decke geht. Das Problem ist nur: Trotz aller Bemühungen wollen Inflationsrate und Arbeitskräftenachfrage einfach nicht sinken. Im Gegenteil. Nach einem Rückgang im August ist die Zahl der offenen Stellen im September völlig überraschend wieder deutlich auf jetzt 10,7 Millionen gestiegen. Auf einen Erwerbslosen kommen damit rein rechnerisch fast zwei verfügbare Jobs. Eine nachhaltige Abkühlung des - in Powells Worten - "untragbar heißen" Arbeitsmarkts ist vor diesem Hintergrund kaum realistisch.

Das gilt umso mehr, als auch andere Daten in dieselbe Richtung deuten. Die Zahl der Entlassungen etwa ist vergleichsweise niedrig, die der Kündigungen durch Arbeitnehmer dagegen weiter hoch. Viele Beschäftigte erachten also die mit einem Jobwechsel verbundenen Chancen weiterhin für attraktiver als die relative Sicherheit, die ihnen ihre bisherige Stelle bot. Von einem "Teflon-Arbeitsmarkt", an dem alle weltwirtschaftlichen Risiken und Probleme bisher einfach abzuprallen scheinen, sprach jüngst das Wall Street Journal.

Das alles bedeutet naturgemäß nicht, dass die Lage für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Dauer so rosig bleiben muss. Sollte die US-Wirtschaft 2023 tatsächlich in eine tiefe Rezession rutschen, könnten vielmehr die altbekannten Reflexe der Arbeitgeber wieder zum Vorschein kommen. Im Extremfall bricht die Wirtschaftsleistung ein, die Arbeitslosigkeit steigt deutlich, die Teuerungsrate jedoch geht wegen anhaltender Lieferkettenprobleme und der vielen anderen globalen Probleme nicht oder nur sehr langsam zurück. Für die Fed - wie für jede Notenbank - wäre das die schlechteste aller Welten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: