Der Deal stammt aus den letzten Tagen der Trump-Regierung. 346 Menschen waren bei zwei Boeing 737-Max-Abstürzen 2018 und 2019 ums Leben gekommen, eine eilig und schlampig entwickelte neue Flugsteuerungssoftware spielte bei beiden eine entscheidende Rolle. Doch Boeing kam damals glimpflich davon, gegen eine Zahlung von für den Konzern lächerlichen 243 Millionen US-Dollar. Für die Angehörigen der Opfer seit jeher ein Unding.
Es sieht nun aber ganz danach aus, als könnte Boeing juristisch doch noch stärker zur Rechenschaft gezogen werden und die Angehörigen wenigstens den Hauch von Genugtuung erfahren. Denn das US-Justizministerium hat in einem Brief an sie mitgeteilt, dass Boeing nach Ansicht der Behörde gegen die Auflagen der damaligen Einigung verstoßen habe. Damit sind weitere strafrechtliche Folgen möglich, allerdings noch nicht entschieden.
Aus Sicht der Angehörigen muss es sich wie bittere Ironie anfühlen, dass ausgerechnet der Beinahe-Unfall der Alaska-Airlines-Boeing 737-Max vom 2. Januar 2024 den letzten Anstoß zu der Entscheidung gegeben hat. Bitter, weil es bei dem Flug nur ein paar Leichtverletzte gegeben hat, während die zwei Abstürze mit mehr als 300 Opfern zunächst rein juristisch aus Boeing-Sicht so wenig folgenreich waren. Mechaniker hatten bei der Montage des Alaska-Jets nach einer außerplanmäßigen Reparatur vergessen, Schrauben wieder anzubringen. Ein Rumpfverschluss, der anstelle eines Notausgangs angebracht war, flog kurz nach dem Start davon.
Der Alaska-Flug an sich endete glimpflich, doch die Folgen für Boeing sind seither dramatisch. Denn der Pannenflug ereignete sich nur fünf Tage, bevor die Bewährungsfrist des Deals mit der Trump-Regierung ausgelaufen wäre. Damit hatte das Justizministerium der derzeitigen US-Regierung unter Präsident Joe Biden eine Handhabe, doch noch stärker durchzugreifen. Es stellte nun in einer Klageschrift fest, dass Boeing, anders als zugesagt, kein Compliance- und Ethikprogramm etabliert habe, das Verstöße gegen US-Betrugsgesetze verhindere oder aufdecke.
Boeing hat nun bis Mitte Juni Zeit, sich zu den Vorgängen zu äußern. Das Justizministerium wird danach über mögliche Konsequenzen und Strafen entscheiden. Das Unternehmen legte sich aber bereits in einem Statement fest und behauptete, es habe gegen die Auflagen der damaligen Einigung nicht verstoßen. Es gilt aber als sehr wahrscheinlich, dass der Flugzeughersteller nicht noch einmal so glimpflich davonkommt, schließlich hat sich die Haltung der Aufseher in der Regierung und der Federal Aviation Administration (FAA) in den vergangenen Monaten dramatisch geändert.
Und das nicht nur wegen der Fehler in der Entwicklung und Produktion der 737- Max. Denn zuletzt hatte sich herausgestellt, dass Mitarbeiter Unterlagen gefälscht hatten, die die Produktion des Langstreckenjets 787 dokumentieren sollten. Sie gaben an, die Montage von Tragflächen an den Rumpf ordnungsgemäß überprüft zu haben. Ein Whistleblower aber alarmierte das Unternehmen mit dem Hinweis, die Checks hätten gar nicht stattgefunden. Maschinen, die derzeit in Charleston gebaut werden, müssen nun aufwendig überprüft werden, die Folgen für bereits ausgelieferte Flugzeuge sind noch unklar. Es besteht aber laut Boeing kein unmittelbares Risiko für die Flugsicherheit. Auch hier ermitteln bereits die Behörden und könnten Strafen erlassen oder strenge Auflagen für die Produktion beschließen.
Schon jetzt darf Boeing monatlich nicht mehr als 38 Exemplare der 737 Max produzieren, eine Zielmarke, von der das Unternehmen in den ersten Monaten des Jahres 2024 allerdings sowieso noch weit entfernt war. Bis inklusive April übernahmen Airlines 82 Maschinen des Typs, also monatlich etwa 20, und nur ein Teil davon entstammt der aktuellen Produktion. Boeing hatte viele Flugzeuge vorproduziert und nicht ausgeliefert, weil chinesische Fluglinien die Max erst seit Kurzem wieder abnehmen. Die FAA hatte das Unternehmen zuletzt dazu verpflichtet, innerhalb von 90 Tagen einen Plan zu entwickeln, wie die Produktionsmängel beseitigt werden können.
All dies findet in einer Phase statt, in der Boeing versucht, die künftige Konzernführung zu definieren. Stan Deal, Chef der Zivilsparte, musste nach dem Alaska-Desaster gehen, Vorstandschef Dave Calhoun will noch bis Jahresende bleiben. Doch ein offensichtlicher Nachfolger ist nicht in Sicht. Larry Culp, Chef des Triebwerksherstellers GE Aerospace, hat bereits abgesagt. Intern gilt Stephanie Pope als einzig denkbare Kandidatin für den Calhoun-Job. Sie muss sich derzeit auf dem ehemaligen Posten von Deal bewähren.