Vor ein paar Tagen hat US-Präsident Barack Obama eine wirtschaftspolitische Bilanz seiner bald achtjährigen Amtszeit gezogen, und sie fiel - Überraschung! - ausgesprochen positiv aus: 14,4 Millionen Jobs sind seit 2010 entstanden, 73 Monate in Folge ist die Zahl der Beschäftigten gestiegen, das ist Rekord. Die Arbeitslosenquote ist von zehn auf fünf Prozent gefallen, die Wirtschaft wächst.
Und doch wird sich mancher die Augen gerieben haben, denn Obamas Zustandsbeschreibung hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Bürger wenig zu tun. Ja, viele Jobs sind wieder da oder neu entstanden - aber längst nicht immer dort, wo sie im Zuge der Rezession von 2008/09 verloren gegangen waren. Andere sind zurück, werden aber schlechter bezahlt als früher. Die Wirtschaft wächst zwar, aber so lustlos, dass die Früchte vielerorts nicht mehr ankommen. Das durchschnittliche Familieneinkommen liegt niedriger als vor 15 Jahren, umgekehrt landen 50 Prozent aller Einkommenszuwächse beim ohnehin reichsten Prozent der Bevölkerung. So sehr viele auch versuchen, sich in Obamas hübschem Bild wiederzufinden - es gelingt nicht. Zurück bleibt diese diffuse Angst, vergessen worden zu sein, die Menschen so anfällig macht für vermeintliche Wunderheiler und ihre Parolen.
Wer aber ist schuld daran, dass die Wirtschaft nur noch so anämisch wächst? Dass sie ihre Kraft verloren hat, den Wohlstand eines ganzen Landes kontinuierlich zu steigern oder doch zumindest abzusichern? Der Präsident und der Kongress, die sich gegenseitig blockieren? Mexikanische Immigranten und chinesische Arbeitsplatzräuber, wie der gnadenlose Simplifizierer Donald Trump glauben machen will? Die Globalisierung oder der technologische Fortschritt, der ganze Fabriken in den USA entvölkert hat?
Auch wenn einige dieser Punkte eine Rolle spielen, der entscheidende Faktor ist ein anderer: die Finanzindustrie.
Über Jahrhunderte waren Banken in den USA Dienstleister, die die Ersparnisse der Bürger bündelten, um sie den Unternehmen für kreditfinanzierte Investitionen zur Verfügung stellen zu können. Doch mit der Lockerung der Branchenregeln seit Beginn der 1980er-Jahre rückte diese Mittlerfunktion immer stärker in den Hintergrund. Heute dienen viele Banken nur noch einem Herrn - sich selbst.
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Eine Mauer zu Mexiko oder Zölle gegen China? Nötig wäre etwas ganz anderes
Statt in zukunftsfähige Firmen investieren die Geldhäuser in selbst geschaffene Finanzprodukte, die mit der Realwirtschaft kaum mehr zu tun haben und deren einziger Daseinsgrund darin besteht, dass sie sich rasch kaufen und mit Gewinn wieder verkaufen lassen. Wie sehr sich das Geschäft verändert hat, zeigt ein Blick auf die Terminmärkte. Auf ihnen wurden 1970 fast ausschließlich Getreide, Schweinebäuche und andere Agrarwaren gehandelt. Heute machen Finanzprodukte ohne Mehrwert für die Volkswirtschaft drei Viertel des Geschäfts aus.
Umgekehrt ist die Kreditvergabe der US-Banken an kleine Unternehmen stark gesunken, was dazu beiträgt, dass immer weniger Firmen gegründet werden. Gerade Start-ups aber sind es, die die technologische Entwicklung des Landes stets vorangetrieben haben, die einer Volkswirtschaft Dynamik verleihen und neue Arbeitsplätze schaffen. Finden Firmengründer keine Geldquellen mehr, trifft das somit nicht nur ein paar spleenige Garagen-Nerds, sondern ein ganzes Land.
Gleichzeitig haben auch viele Großunternehmen an Innovationskraft verloren, seit die Politik sie im Zuge der Bankenliberalisierung dem Druck der Finanzmärkte ausgesetzt hat. Für viele Manager ist die Steigerung des Börsenwerts heute wichtiger als die Entwicklung zukunftsträchtiger Produkte. Um Finanzanleger zu beglücken (und auch um den eigenen Bonus zu erhöhen), kaufen sie Anteilsscheine des eigenen Unternehmens zurück und zahlen Dividenden auf Pump. All das geht zu Lasten der Forschungs- und Entwicklungsausgaben, die - relativ gesehen - seit Jahren zurückgehen. Noch Mitte der 1980er- Jahre trugen börsennotierte Konzerne drei Viertel zu den privaten Forschungsausgaben der US-Wirtschaft bei. Heute ist es nur noch die Hälfte.
Um die Entwicklung umzukehren, bedarf es keiner Mauer an der Grenze zu Mexiko und keiner Prohibitivzölle im Handel mit China. Beides würde mehr schaden als nutzen. Notwendig ist vielmehr eine Finanz-, Steuer- und Vergütungsreform, die die Banken - notfalls durch Zerschlagung - auf ihre Dienstleisterrolle zurückstutzt und Manager dazu animiert, statt des Aktienkurses wieder das langfristige Wohl der Firmen in den Mittelpunkt ihres Strebens zu stellen. Gelingt das nicht, werden die Enttäuschten von rechts wie links die Oberhand gewinnen - spätestens bei der übernächsten Präsidentschaftswahl.