US-Wirtschaft:Doppelte Wahrheit

Warum die amerikanische Konjunktur im ersten Quartal des Jahres gleichzeitig eingebrochen und gewachsen ist und was für Konsequenzen das hat.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich die schlechte Nachricht auf der ganzen Welt verbreitet hatte. "US-Konjunktur bricht ein", titelte eine Nachrichtenagentur vor wenigen Tagen, und eine andere konstatierte, die weltgrößte Volkswirtschaft sei "kräftig ins Straucheln" geraten. Als hätte die Welt nicht ökonomische Probleme genug, nun also auch noch die USA. Nur: Stimmten die Meldungen auch?

Rein formal gesehen hätte der Kronzeuge, den die Agenturen ins Feld führten, glaubwürdiger nicht sein können, denn die Zahlen, wonach die US-Wirtschaft im ersten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um 0,7 Prozent geschrumpft ist, stammten vom hochoffiziellen Amt für ökonomische Analysen (BEA). Und dennoch sagt Justin Wolfers, Partner am renommierten Peterson Institute for International Economics und Professor an der Universität Michigan: Die Wirtschaftsleistung ist nicht gesunken, sondern gestiegen. Wie so oft unterschätzten die staatlichen Statistiker die Entwicklung im ersten Quartal, weil sie es nicht schafften, saisonale Einflüsse auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wie Eis und Schnee korrekt zu berücksichtigen.

Da auch Wolfers sich nicht anmaßt, die Bereinigung besser hinzubekommen, empfiehlt er, die Dinge einfach auf den Kopf zu stellen: Statt zu versuchen, jeden Dollar, der im Land erwirtschaftet wurde, mittels Schätzung aufzuaddieren, solle die Behörde lieber die Einkommen aller Wirtschaftsteilnehmer zusammenrechnen. Die Idee: Da in der Wirtschaft jeder Dollar, den jemand ausgibt, andernorts als Einnahme verbucht wird, lässt sich die Wirtschaftskraft statt über das BIP auch über das Bruttoinlandseinkommen (BIE) messen. Theoretisch müssten beide Zahlen identisch sein, in der Praxis sind sie es aufgrund unterschiedlicher Schätzmethoden jedoch oft nicht. Und in der Tat kann sich das BIE im ersten Quartal sehen lassen: Anders als das BIP nämlich legte es um 1,4 Prozent zu.

Triumphgehabe liegt Wolfers dennoch fern, denn trotz der positiven Zahlen konstatiert auch er: "Manchmal können zwei Dinge gleichzeitig wahr sein. Erstens: Der BEA-Bericht unterschätzt das Wachstum. Und zweitens: Das Wachstum ist weiterhin schwach." Für "fröhlichen Optimismus" gebe es daher keinen Grund, sagte der Ökonom der Süddeutschen Zeitung.

Das Amt für ökonomische Analysen kündigt an, neue Maßstäbe einzuführen

Von Fröhlichkeit ist auch im jüngsten Konjunkturbericht der US-Notenbank wenig zu sehen. Zwar kommt die Fed im sogenannten Beige Book zum Schluss, dass das BIP im April und Mai anders als zu Jahresbeginn wieder zugelegt hat. Der Bericht strotzt jedoch zugleich vor Einschränkungen und Relativierungen, die zeigen, dass von einem wirklich kräftigen Aufschwung keine Rede sein kann. Damit bleibt auch offen, ob die Fed die Leitzinsen bereits in diesem Herbst erhöhen wird oder nicht.

Das BEA hat derweil auf die Kritik von Wolfers und anderen reagiert und angekündigt, seine Veröffentlichungspraxis zu ändern: Ab Juli will das Amt zusätzlich zum BIP einen Durchschnittswert aus Bruttoinlandsprodukt und Bruttoinlandseinkommen vorlegen. "Wenn das der neue Maßstab für die wirtschaftliche Debatte würde", so Wolfers, "wäre wirklich viel gewonnen"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: