Urteil gegen Netto:Bonbon lutschen reicht nicht für Kündigung

Netto-Markt im Gewerbegebiet Moorenweis bei Nacht, 2013

Einkaufsmarkt bei Fürstenfeldbruck. Der Discounter Netto gehört zum Lebensmittelhändler Edeka.

(Foto: Johannes Simon)

Das Arbeitsgericht Paderborn entscheidet: Der Discounter Netto muss eine unbequeme Kassiererin wieder einstellen.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Der Discounter Netto gehört zu den ganz Großen im Lebensmitteleinzelhandel. 4170 Filialen, fast 73 000 Mitarbeiter und 21 Millionen Kunden pro Woche zählt der Konzern, der im Internet so für sich wirbt: "Fairness und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit unseren Mitarbeitern sind ein essenzieller Bestandteil unserer Unternehmensphilosophie."

Angela Webster, 43, hat mit Netto andere Erfahrungen gemacht. Seit 2009 arbeitet die Frau, die seit einem Arbeitsunfall schwerbehindert ist, bei dem Discounter, zuletzt als 24-Stunden-Kraft an der Kasse. Webster dürfte für ihren Arbeitgeber ein eher unbequemer Arbeitnehmer sein. Wegen ihrer Behinderung verfügt sie über einen erweiterten Kündigungsschutz. Als ihre Filiale in Paderborn geschlossen werden sollte, sammelte sie dagegen Unterschriften. Die Filiale blieb offen, Webster aber, die Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist, wurde abgemahnt. Nun trafen sich die beiden Parteien vor dem Arbeitsgericht Paderborn wieder. Streitpunkt war diesmal ein Bonbon.

Im Juli vergangenen Jahres hatte die Kassiererin eine fristlose Kündigung erhalten. Der Arbeitgeber warf ihr vor, während der Arbeit ein Bonbon gelutscht zu haben. Ein Kunde habe sich per E-Mail darüber beschwert, dass das Bonbon auf Lebensmittel gefallen sei und sie an der Kasse schlecht über Netto geredet habe. Grund genug für Netto, die Frau wegen Rufschädigung und wegen des Verstoßes gegen Hygienevorschriften vor die Tür zu setzen . Die Kassiererin klagte mit Hilfe des DGB-Rechtsschutzes dagegen, Webster wollte wieder eingestellt werden. "Diesen Vorfall gab es nicht", sagt sie. Er sei nur vorgeschoben, um sie loszuwerden. Sie habe aufgedeckt, dass Netto Fehlstunden trotz Krankmeldung als Minusstunden gezählt habe, und sich geweigert, diese unentgeltlich nachzuarbeiten.

Vor Gericht erhielt Webster nun Recht. Die Paderborner Arbeitsrichter entschieden, dass die Kündigung nicht wirksam ist, und der Discounter die Frau wieder beschäftigen muss. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass bei der Beweisführung einige Ungereimtheiten auftauchten: So blieb nach Angaben der Prozessbeobachter von Verdi "die Herkunft der angeblichen Beschwerde-E-Mail bis heute ungeklärt". Außerdem habe sich die stellvertretende Filialleiterin, die den Bonbon-Vorfall bezeugt hatte, an dem fraglichen Tag im Urlaub befunden.

Für Gerhard Sell, Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Koblenz, zeigt der Fall, dass bei Netto nach wie vor eine "arbeitnehmerfeindliche Haltung" herrsche. Hier gebe es seit Jahren ein System, "in dem Druck von oben nach unten weitergegeben wird". Die Margen im Lebensmitteleinzelhandel seien äußerst niedrig. "Da bleibt nur das Personal zum Sparen", sagt Sell, der sich seit Jahren mit den Arbeitsbedingungen im Einzelhandel befasst.

Netto sieht dies anders. Man lege großen Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit allen Mitarbeitern, sagt ein Sprecher. "Die Einhaltung aller gesetzlichen und tariflichen Vorgaben ist für uns eine Selbstverständlichkeit." Auch müssten im Krankheitsfall "Arbeitszeiten selbstverständlich nicht nachgeholt werden". Vor Gericht hatte Netto laut Verdi die Minusstunden mit einem technischen Versehen begründet. Ob der Discounter das Urteil akzeptiert oder in Berufung geht, ist noch offen. Dies werde noch geprüft, sagt der Sprecher.

Angela Webster aber will weiterkämpfen - und für den Betriebsrat kandidieren. Eine Abfindung ihres Arbeitgebers lehnte sie ab. "Die Wahrheit ist nicht käuflich", sagt die Frau. Im Übrigen sei sie auf ihre Arbeit angewiesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: