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Urteil gegen Middelhoff:Zu viele Lügen, zu wenig Demut

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Er war Top-Manager, er war Wunderkind, er war: "Big T". Doch mit der Wahrheit nahm es Thomas Middelhoff nicht so genau. Nun muss er für drei Jahre ins Gefängnis. Selbst seine Anwälte sind ratlos.

Aus dem Gericht von Kirsten Bialdiga, Essen

Wie versteinert steht er da, als er das Urteil hört. Er, der sich einst für unangreifbar hielt, für den Besten. 40 Millionen Euro hat er mal von Bertelsmann als Prämie bekommen. 40 Millionen! Wer bekommt schon so viel für seinen größten Deal? Und nun hockt er da, stützt sich auf seine Stuhllehne, den Rücken gekrümmt.

Drei Jahre Gefängnis, verkündet Richter Jörg Schmitt im Essener Landgericht. Und am Ende der zweieinhalbstündigen Urteilsverkündung kommt der Satz, den Middelhoff wohl selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorweggenommen hat: "Gegen den Angeklagten wird wegen Fluchtgefahr Haftbefehl angeordnet."

Fluchtgefahr. Das verwundert nicht

Sein Blick wird starr. Der Punkt, den er fixiert, liegt weit in der Ferne. Im Zuschauerraum ist unterdrücktes Schluchzen zu vernehmen. Middelhoffs Frau und seine Kinder sind fassungslos. Wenig später sitzt Middelhoff schon in der Haftzelle des Gerichts, während das Gericht berät, ob der Haftbefehl dauerhaft vollstreckt wird. Zwei Stunden später verkündet das Gericht: Ja, er bleibt in Haft. Mindestens bis zum nächsten Haftprüfungstermin nächste Woche. Vielleicht auch länger.

Fluchtgefahr. Man wundert sich nicht. Denn Middelhoff, genannt "Big T", ist schon einmal geflohen, wenn auch nicht im juristischen Sinne. Jeder konnte es nachlesen, er hat es stolz der Bild erzählt. Im Sommer ist er, um den Fotografen zu entkommen, im Gerichtsgebäude in Essen aus dem Fenster gestiegen und "wie eine Katze" übers Dach geklettert. Dass er zuvor einen Offenbarungseid abgeben musste? Hat er einfach weggelächelt.

Der Fall des Thomas Middelhoff - es ist ein tiefer Fall. Der Sturz von einem, der vor Jahren viele, wirklich viele Millionen verdiente und nun seine Rechnungen nicht bezahlt, weshalb ihm bei einer Taschenpfändung die Uhr weggenommen wurde. Und der nun auch noch ins Gefängnis muss.

Selten ist ein deutscher Manager so tief gefallen. Noch zur Jahrtausendwende wurde Middelhoff als Bertelsmann-Chef gefeiert wie ein Wunderkind. Als derjenige, der den Umsatz von Europas größtem Medienkonzern binnen kurzer Zeit verdoppeln und das Eigenkapital verachtfachen konnte. Der von Politikern, Wirtschaftsbossen und Journalisten hofiert wurde, dem kaum ein Zirkel verschlossen blieb. Nun steht er vor den Scherben seiner Existenz.

Für Richter Schmitt besteht nach mehr als sechs Monaten Strafprozess kein Zweifel mehr, dass sich der frühere Chef der Warenhauskette Arcandor in 27 Fällen der Untreue schuldig machte und der dreifachen Steuerhinterziehung. In zwei Fällen davon sogar der schweren Untreue.

Dabei geht es zum einen um einen Privatflug nach New York für 95 000 Euro, den nicht Middelhoff, sondern Arcandor bezahlte - zu einem Zeitpunkt, als Arcandor ums Überleben kämpfte. Noch gravierender wertete der Richter eine Festschrift für 180 000 Euro, mit der Middelhoff seinen Mentor ehren wollte, den Ex-Bertelsmann-Aufsichtsratschef Mark Wössner - ebenfalls auf Arcandor-Kosten, obwohl der Konzern davon keinen Nutzen hatte.

Für Vergehen in dieser Größenordnung sehe das Gesetz eine Strafe von bis zu zehn Jahren Haft vor, führt der Richter aus. Die Kammer habe berücksichtigt, dass der Prozess für Middelhoff wegen der großen medialen Aufmerksamkeit eine besondere Belastung darstelle, aber: "Es ist ganz wichtig, dass Prominente vor Gericht keinen Bonus, aber auch keinen Malus erhalten."

Der Richter wirft Middelhoff Unehrlichkeit vor

Mit dem Urteil lehnte sich Richter Schmitt eng an die Forderung der Staatsanwaltschaft an. Die Ankläger hatten drei Jahre und drei Monate Haft gefordert. Es gebe keinerlei vertragliche Grundlage dafür, dass sich Middelhoff seine Privatflüge von Arcandor erstatten ließ, begründete der Richter das Urteil. "Es gab dazu auch keine Vereinbarung mit dem Aufsichtsratschef, wir sind überzeugt, dass das eine Lüge war - und Sie haben an dieser Lüge mitgewirkt." Middelhoffs Verteidiger hingegen hatten auf Freispruch plädiert.

Die Chance, ungeschoren aus diesem Prozess herauszukommen, hatte der 61-Jährige schon lange verspielt, wie der Richter am Freitag im Essener Landgericht deutlich machte: "Sie sprachen in Ihrem Schlusswort davon, dass Sie sich in Ihrer Ehre verletzt sehen. 'Ehre', das ist wortverwandt mit Ehrlichkeit." Leider sei Middelhoffs Verhalten aber überwiegend von verteidigungstaktischen Überlegungen geprägt gewesen.

"An entscheidenden Stellen dieses Prozesses waren Sie nicht ehrlich mit mir und vielleicht auch nicht ehrlich mit sich selbst", führte der Richter aus. Immer wieder habe Middelhoff sich selbst widersprochen und sich damit am Ende selbst belastet. Die Erklärungen seien zum Teil "abenteuerlich" gewesen.

Zum Beispiel als es um Middelhoffs Entscheidung ging, bei Arcandor anzufangen. Um neue Herausforderungen sei es ihm gegangen, darum, wieder mehr im Mittelpunkt zu stehen - trotz eines niedrigeren Einkommens, habe er beteuert. Dann aber sei ein Papier im Prozess aufgetaucht, das für Middelhoff Prämien bis zu 100 Millionen Euro vorgesehen hatte. Der Richter erhebt seine Stimme: "Das ist aber eine ganz andere Motivlage."

Auf den Cent genau rechnet der Richter vor, wie hoch der Schaden war, den Middelhoff Arcandor zufügte - und kommt auf eine Gesamtsumme von 500 000 Euro. Allein die Hubschrauberflüge zwischen Bielefeld und Essen kosteten den inzwischen insolventen Konzern 74 217 Euro - obwohl Middelhoff eine Dienstwohnung in Düsseldorf hatte und ihm Dienstwagen mit Fahrer zustand.

"Dahinter steckte einzig der nachvollziehbare Wunsch, Ihre Familie zu sehen", redet sich der Richter in Rage. Dabei hätten die Termine in der Essener Arcandor-Zentrale kaum vor neun Uhr begonnen. "Da müssen Sie entweder früher aufstehen oder in Ihrer Dienstwohnung übernachten."

Doch der Vorsitzende ist noch nicht fertig. Auch die Charterflüge nach New York habe Middelhoff in den meisten Fällen einzig zum Privatvergnügen angetreten - um seine Nebentätigkeit als Board-Mitglied der New York Times ausüben zu können. "Wie Sie aus der Genehmigung Ihrer Nebentätigkeiten ableiten konnten, dass Arcandor auch die Reisekosten trägt, ist für mich nicht nachvollziehbar."

Middelhoff kann Revision einlegen, aber wird er das?

Je länger der Vorsitzende redet, desto drastischer wird er in seiner Wortwahl. "Regelrecht vom Stuhl gehauen" habe ihn manche Äußerung des Angeklagten. "Sie sagten, Sie seien 'Mr. Arcandor' und lebensnotwendig für den Konzern. Nach dieser Argumentation hätte das Unternehmen Ihnen Ihr ganzes Leben bezahlen müssen."

So fällt dem Richter an diesem trüben Novembermorgen nur wenig ein, das für den Angeklagten spricht. Seine bisherige Lebensleistung etwa und dass er sich bisher nichts zuschulden kommen ließ. Bei einigen Terminen habe es sich, so der Richter, um eine Mischung aus Privat- und Dienstanlass gehandelt. In 17 von insgesamt 44 Fällen spricht das Gericht Middelhoff daher frei. Dazu zählten auch die Vorstandswochenenden in Saint Tropez, wo "bei einem Glas Wein der Abbau von 4000 Arbeitsplätzen beschlossen wurde".

Die Worte des Richters verfehlen ihre Wirkung nicht. Mal schaut Middelhoff hilflos zu seinen Anwälten, dann wieder richtet er seinen Blick aus dem Fenster hinaus in die Ferne. Nur nach rechts schaut er nicht. Dort sitzen im Zuschauerraum seine Frau und die Kinder.

Er kann gegen das Urteil Revision einlegen. Aber wird er das? Middelhoff kann die Frage nicht beantworten, er wird direkt ins Gefängnis gebracht. Und seine Anwälte sind ratlos. Sie sagen nur: "Wir können Ihnen heute nichts sagen, nicht einmal, ob wir Revision einlegen."

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Quelle:
SZ vom 15.11.2014
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