Urteil:Gefahr in der Luft

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Messstation in Köln: Künftig soll schon die Überschreitung der Grenzwerte an einem Gerät entscheidend für die Beurteilung der Luft sein, nicht mehr ein Mittelwert mehrerer Anlagen. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Der Europäische Gerichtshof verschärft die Regeln für das Messen von Schadstoffen in Städten. Das hilft auch Bürgern in Deutschland.

Von Markus Balser, Berlin

Dass in Europas Städten Grenzwerte von Luftschadstoffen gleich reihenweise überschritten werden, hatte die Politik zuletzt vielerorts erfinderisch gemacht. So beschloss die Bundesregierung, dass leichte Überschreitungen keine Fahrverbote rechtfertigten. Andernorts machten Vorschläge die Runde, sich nicht auf einzelne Messstellen zu konzentrieren, sondern einen Durchschnittswert zu bilden. Am Mittwoch zog der Europäische Gerichtshof (EuGH) angesichts solcher Debatten die Reißleine. In einem Grundsatzurteil (Rechtssache C-723/17) verschärften die Luxemburger Richter die Regeln für das Messen der Luftqualität deutlich. Künftig sollen die Bürger stärker von Tricks der Politik und damit auch vor schlechter Luft geschützt werden. Bei der Beurteilung der Luft sei schon die Überschreitung der Grenzwerte an einer Messstation entscheidend und nicht der von allen Anlagen ermittelte Mittelwert, erklärte der EuGH. Dieser liefere keinen ausreichenden Hinweis auf die tatsächliche Schadstoffbelastung der Bevölkerung. Die Luxemburger Richter stellten gleichzeitig die Befugnisse von Gerichten der Mitgliedsstaaten im Streit um die Messverfahren klar. Die Instanzen dürften die Wahl der Standorte von Messstationen überprüfen und gegenüber den Behörden Vorschriften machen. Es geht bei dem Urteil um die Werte von Feinstaub, Stickstoffdioxid oder anderen in der EU-Richtlinie über Luftqualität für Europa genannte Schadstoffe.

Das Urteil dürfte Fahrverbote in Deutschland leichter machen

Die Entscheidung geht auf Klagen Brüsseler Bürger und einer Umweltschutzorganisation in Belgien zurück. Sie hatten geklagt, weil die belgische Hauptstadt aus ihrer Sicht zu wenig gegen schmutzige Luft tut. Die Organisation Clientearth hatte nach eigenen Angaben entdeckt, dass Messstationen an zwei Brüsseler Hauptverkehrsstraßen zwischen 2008 und 2014 abgeschaltet waren. Das zuständige belgische Gericht bat den EuGH bei zwei Fragen um Auslegung der EU-Richtlinie über Luftqualität: Können Bürger gerichtlich überprüfen lassen, ob an der richtigen Stelle gemessen wird? Und ist ein zu hohes Ergebnis für Stickstoffdioxid, Feinstaub oder andere Schadstoffe bereits an einem einzigen Messpunkt schon eine Verletzung des EU-Grenzwerts?

Die Antwort dürfte auch weitreichende Folgen für Deutschland haben. Sie stärkt die bisherige Praxis von Behörden, Fahrverbote in einem größeren Gebiet zu verhängen, auch wenn Grenzwerte nur an einer Stelle überschritten werden. Und sie erleichtert es Anwohnern viel befahrener Straßen zu klagen und Abhilfe einzufordern. Die Probleme sind weiter groß. 2018 wurde dem Umweltbundesamt zufolge in 57 Städten gegen den EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid verstoßen.

Gegen diese Praxis hatte sich zuletzt Widerstand formiert. Vor allem CSU-Politiker äußerten in der Vergangenheit immer wieder Zweifel an der Platzierung der Apparate und der Aussagekraft der Messwerte. Auch Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) kritisierte etwa, dass Geräte direkt an Kreuzungen oder Busbahnhöfen aufgebaut würden. Dieser Kritik widersprachen die Luxemburger Richter mit ihrem Urteil vehement. Die EU-Regeln sähen vor, Messstationen so einzurichten, dass sie Informationen über die am stärksten belasteten Orte lieferten, erklärten die Richter weiter. Die Standorte müssten deshalb so gewählt werden, dass die Gefahr unbemerkter Überschreitungen von Grenzwerten minimiert werde. Der Witz über den Statistiker, der in einem See ertrinke, obwohl dieser im Durchschnitt nur wenige Zentimeter tief ist, bringe das Problem treffend zum Ausdruck, schreiben die Richter zu Versuchen, Gefahren zu relativieren. Die Auslegung der geltenden Regeln durch den EuGH gilt nun für alle EU-Staaten.

Das Bundesumweltministerium lobte das Urteil. "Es unterstützt alle, die sich für bessere Luft in den Städten und für den Gesundheitsschutz einsetzen", sagte Ministerin Svenja Schulze (SPD). Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) erklärte, dass der EuGH mit dem Urteil den "Gesundheitsschutz vor die Profitinteressen der Dieselkonzerne" stelle. Städte könnten nun nicht länger durch "absurde Mittelwertbildungen die tatsächliche Belastung ihrer innerstädtischen Atemluft schön rechnen", sagte DUH-Chef Jürgen Resch. Der Verein setzte in mehreren deutschen Städten Dieselfahrverbote durch.

© SZ vom 27.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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