Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Euro-Hilfen:Kraftspritze für das Parlament

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Das Bundesverfassungsgericht billigt Deutschlands Beitrag zur Euro-Rettung. Das Urteil gibt dem Parlament mehr Macht - es definiert aber auch die Grenzen des Machbaren. Die Bedenken der Richter stecken im Detail. Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Urteil.

Heribert Prantl

Auf den ersten Blick geht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr großzügig mit dem Euro-Rettungsschirm um. Es klappt ihn nicht zu, es schüttelt ihn auch nicht unwillig - sondern es hält ihn schön fest und singt dazu das hohe Lied des Parlaments. In ersten Kommentaren ist gesagt worden, das Gericht habe den Schirm "durchgewunken". Aber das beschreibt das Urteil nicht angemessen. Es enthält zahlreiche Festlegungen, die künftige richterliche Entscheidungen vorwegnehmen - nicht nur, wenn es um weitere Rettungsschirme geht.

Das Parlament darf nach dem Urteil der Verfassungsrichter nicht "in die Rolle des bloßen Nachvollzuges" geraten, sondern es muss der Ort bleiben, "in dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden wird". (Foto: dpa)

Das Karlsruher Urteil enthält beispielsweise wenig verklausulierte Bedenken gegen eine Europäische Wirtschaftsregierung - jedenfalls solange das Grundgesetz in der jetzigen Fassung gilt. Und das Urteil interpretiert die Europäischen Verträge in sehr eigenständiger Weise. Es erklärt nämlich, dass diese Verträge einer nationalen Haushaltsautonomie nicht nur nicht entgegenstehen, sondern diese "voraussetzen". Und dann erklärt das Gericht, dass nur die "strikte Beachtung" der europäischen Verträge gewährleiste, dass die Handlungen der EU "in und für Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügen". Der Bundespräsident kann sich mit seiner Kritik an der Europäischen Zentralbank, die er unlängst vor Nobelpreisträgern in Lindau geäußert hat, durchaus auf das Urteil des Bundesverfassungsgericht berufen.

Ist das Urteil die Betriebsgenehmigung für eine Rettungsschirmfabrik? Können nun Euro-Rettungsschirme am laufenden Band produziert werden?

Das Urteil betrifft direkt nur die Rettungsmaßnahmen von Mai 2010, also zwei Gesetze: Erstens das Währungsunion-Finanzstabilisierungsgesetz, das Griechenland mit Milliarden unterstützt; und zweitens das Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz, das den ersten Euro-Rettungsschirm aufspannt. Hier geht es um satte hundert Milliarden Euro - mittlerweile belaufen sich die Rettungsbürgschaften auf eine Viertel Billion.

Die Grundsätze, die im Urteil aufgestellt werden, gelten aber nun für alle weiteren Rettungsaktionen finanzieller Art. Bei jeder Vergrößerung eines Rettungsschirms und bei jedem neuen Rettungsschirm, auch für den, der Ende September zur Abstimmung steht, müssen die Vorgaben des Gerichts beachtet werden. Bei künftigen Verfassungsbeschwerden gegen die Rettungsaktionen wird das Gericht prüfen, ob seine Vorgaben eingehalten worden sind. Wenn nicht, sind die Zahlungen verfassungswidrig - und müssten dann zurückverlangt werden.

Welche Rolle spielt der Bundestag bei den künftigen Rettungsaktionen?

(Foto: Dieter Hanitzsch)

Das Urteil gibt dem Parlament eine Kraftspritze: Der Bundestag muss "frei von Fremdbestimmung" seitens der Organe der EU und anderer EU-Mitgliedsstaaten seine Entscheidungen treffen und dauerhaft "Herr seiner Entschlüsse" bleiben. Er darf nicht an anderweitig von den Regierungen vereinbarte Vorgaben gebunden werden. Das heißt: Die Bundesregierung darf auch nicht drängeln und das Parlament unter Druck setzen. Die höchsten Richter setzen damit hinter die Forderung, die Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) immer wieder erhoben hat, drei Ausrufezeichen.

Die Richter versuchen auch, das Parlament vor seiner eigenen Nachgiebigkeit und Lässigkeit in europapolitischen Angelegenheiten zu schützen: Das Parlament dürfe nicht "in die Rolle des bloßen Nachvollzuges" geraten, es müsse der Ort bleiben, "in dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten". Es wird dem Bundestag strikt verboten, einem "in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsmechanismus" zuzustimmen. Der Bundestag darf also die Regierung nicht "zu Gewährleistungsübernahmen pauschal ermächtigen". Das Gericht spricht von einem "Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung".

Wann muss der ganze Bundestag einer Rettungsaktion zustimmen - und wann genügt die Zustimmung lediglich des Haushaltsausschusses?

In Leitsatz 3 b es Urteils heißt es: "Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen genehmigt werden." Jedem Rettungsgesetz muss also der ganze Bundestag zustimmen - sozusagen grundsätzlich: Das Gesetz muss die Höhe der Haftungssumme und die Auszahlungsmodalitäten nennen. Wenn die einzelnen Summen und Tranchen dann zur Auszahlung gelangen sollen, genügt die Zustimmung des Haushaltsausschusses.

Hier haben die Richter einen ziemlich brutalen Akt der Uminterpretation des Paragraphen 1 Absatz 4 des Euro-Stabilitätsmechanismus-Gesetzes vorgenommen. In diesem Gesetz ist nämlich nur davon die Rede, dass die Bundesregierung "Einvernehmen" mit dem Haushaltsausschuss herstellen muss. Das hieß: Die Regierung hätte sich irgendwie um das Einverständnis des Ausschusses bemühen müssen. Und wenn sie das nicht getan hätte, wäre der Verwaltungsakt, also die Zahlung der Gelder zwar nicht in Ordnung gewesen - aber auch nicht nichtig.

Karlsruhe hat nun das schwammige Wort "Einverständnis" durch "Zustimmung" ersetzt - und diese muss eben ausdrücklich eine vorherige sein. Dieser Eingriff war kühn, aber notwendig, weil sonst die demokratische Legitimation der finanziellen Leistungen gefehlt hätte.

Dürfen die Rettungssummen den halben oder gar den ganzen Bundeshaushalt aufzehren? Wo und wann ist Schlu ss?

Hier drückt sich das Gericht vor einer klaren Äußerung. Es geht zwar davon aus, dass es solche Höchstgrenzen gibt; es nennt sie aber nicht. Ob die 2009 ins Grundgesetz aufgenommene Schuldenbremse zur Einhaltung von Obergrenzen zwingt, wollte das Gericht nicht entscheiden, weil diese für die Gesetze, die zur Prüfung standen, noch nicht gilt. Das Gericht spricht nur vage von einer "allgemeinen Maßstäblichkeit", die sich "aus dem Demokratieprinzip" ergäbe - und hier komme es dann "nur auf eine evidente Überschreitung von äußersten Grenzen an".

Aber zur Evidenz sagen die Richter auch nichts: Verfassungswidrigkeit von Bürgschaften und Zahlungen soll nicht schon dann vorliegen, wenn die Haushaltsautonomie "für einen nennenswerten Zeitraum" eingeschränkt wird, sondern erst dann, "wenn diese "praktisch vollständig leerliefe". Das könne im vorliegenden Fall aber noch nicht festgestellt werden - bei einer Gewährleistungsermächtigung in Höhe von 147,6 Milliarden Euro, und zwar auch dann nicht, wenn man die Griechenlandhilfe von 22,4 Milliarden dazu addiere. Das Gericht hat also einen sehr starken Glauben an die Festigkeit des bundesdeutschen Haushalts. Es sagt sozusagen: Marmor, Stein und Eisen bricht, doch der Bundeshaushalt nicht - oder jedenfalls nicht so schnell.

Lassen das Urteil und das Grundgesetz die Bildung einer Wirtschaftsregierung zu?

Hierzu sagt das Gericht - jedenfalls indirekt - eher nein: "Die Art und die Höhe der den Bürger treffenden Abgaben" dürfe nicht "in wesentlichem Umfang supranationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestags entzogen" werden. Die Richter warnen eindringlich davor, dass "Mechanismen" etabliert werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem, wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind.

Befindet sich Deutschland finanz- und haftungspolitisch auf der Rutschbahn?

Das Gericht versucht hier zu beruhigen: Das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, mittlerweile in der Fassung des Vertrags von Lissabon, gewährleiste "nach wie vor verfassungsrechtlich hinreichend bestimmt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft". Das Gericht meint, derzeit seien "faktische Veränderungen, die die Verbindlichkeit dieses rechtlichen Rahmens in Frage stellen könnten" nicht erkennbar.

Wie äußert sich das Verfassungsgericht zur Europäischen Zentralbank (EZB) und zur Bail-out-Klausel, also dem Verbot der Haftungsübernahme?

Die Sätze dazu gehören zu den wohl heikelsten des Urteils. Nur die strikte Beachtung der EU-Verträge gewährleiste, so sagen die Richter, dass die Handlungen der Organe der EU "in für Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation" verfügen. Das ist ein großes Wort.

Die Richter beharren in diesem Zusammenhang auf der Einhaltung aller Vorschriften, die die EU als "Stabilitätsgemeinschaft" konstruieren: Dabei nennen sie ausdrücklich die Beachtung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von staatlichen Schuldtiteln durch die EZB und das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-Out-Klausel). All diese Verbote werden damit in einen besonders hohen verfassungsrechtlichen Rang erhoben. Sie sichern nämlich nach Meinung der höchsten Richter unionsrechtlich "die Anforderungen des Demokratiegebots".

© SZ vom 08.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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