Umstrittene Reform:"Das Urheberrecht verteilt Vermögen von den Lebenden zu den Toten"

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Die Urheberrechtsreform brachte Hunderttausende Menschen auf die Straße. Der Protest gegen Upload-Filter blieb erfolglos. (Foto: Robert Haas)

Martin Kretschmer hält nichts von der EU-Reform. Doch der Professor für Urheberrecht sagt, dass Deutschland noch viel Spielraum hat - auch bei den Upload-Filtern, die so viele Menschen fürchten.

Interview von Simon Hurtz

Mächtige Konzerne hätten ihre Interessen durchgesetzt, sagt Martin Kretschmer. Doch der Urheberrechts-Professor glaubt, dass Deutschland noch eine Menge Spielraum hat - selbst bei den umstrittenen Upload-Filtern.

Mitte April hat der EU-Ministerrat der Urheberrechtsreform zugestimmt. Damit ging eines der umstrittensten europäischen Gesetzgebungsverfahren der vergangenen Jahre zu Ende. Verbittert hatten Gegner und Befürworter gestritten und sich gegenseitig mit Beschimpfungen überzogen, während im Hintergrund Lobbykämpfe tobten.

Die Reform soll das veraltete Urheberrecht an das digitale Zeitalter anpassen. Doch einige Punkte sind heftig umstritten. Dazu zählt etwa Artikel 15, der besagt, dass Suchmaschinen Presseverlage bezahlen sollen, wenn sie kurze Ausschnitte aus deren Artikeln anzeigen. Den größten Widerstand löste Artikel 17 aus (in früheren Entwürfen hieß er noch Artikel 13). Hunderttausende Menschen gingen dagegen auf die Straße. Sie glauben, dass Plattformbetreiber alle Inhalte vorab scannen werden, um den Anforderungen der Reform gerecht zu werden. Diese sogenannten Upload-Filter sind erwiesenermaßen fehleranfällig und könnten die Macht der großen Plattformen weiter stärken.

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Der EU-Rat hat der Urheberrechtsreform zugestimmt. Wie lange dauert es, bis die Richtlinie umgesetzt wird? Drohen Upload-Filter? Und was macht Deutschland? Die wichtigsten Antworten.

Von Simon Hurtz

Kaum jemand hat den Gesetzgebungsprozess so intensiv begleitet wie Martin Kretschmer. Der Professor für Immaterialgüterrecht leitet an der Universität Glasgow das Forschungszentrum CREATe, das sich mit Urheberrecht und Kreativwirtschaft befasst. "Die EU würde wenig verlieren, wenn sie die Richtlinie einfach ablehnt", sagte Kretschmer im März. Dafür ist es zu spät - doch Kretschmer sagt nun, dass es nicht so schlimm kommen muss, wie Reformgegner befürchten.

SZ: Die Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit, um den Inhalt der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Können sie umstrittene Artikel abschwächen?

Martin Kretschmer: In der Umsetzung gibt es jede Menge Spielraum. Vor allem der komplexe Artikel 17 der Richtlinie enthält eine Reihe schwammiger Formulierungen, die von den Staaten ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Zum Beispiel wird eine Liste mit Plattformen angeführt, die von den Bestimmungen ausgenommen werden sollen, darunter Online-Enzyklopädien und Cloud-Dienste. Davor steht ein "etwa", die Aufzählung ist also nur beispielhaft. Die deutsche Regierung hat gesagt, dass sie Start-ups gern ausnehmen würde. Das wäre theoretisch möglich. Die Reform zielt so präzise wie eine Schrotflinte. Mit solchen Ausnahmen könnte man die Streuung etwas verringern.

Wie könnte Deutschland die Richtlinie konkret verändern?

Die Reform verpflichtet Plattformen, Lizenzen für urheberrechtlich geschützte Inhalte zu erwerben, die von Nutzern hochgeladen werden. Ganz wichtig ist, was passiert, wenn das nicht funktioniert. Zum Beispiel, weil bei bestimmten Inhalten gar nicht klar ist, mit wem man verhandeln soll. Haben Sie mal versucht herauszufinden, wer die Urheberrechte an einem Filmplakat aus den 50er-Jahren hält? Das wird schwierig. Wenn Plattformbetreiber nachweisen können, dass sie bestmögliche Anstrengungen unternommen haben, haften sie nicht unmittelbar. Dann bleiben wir nahe an der bisherigen Regelung: Sie müssen reagieren, wenn Rechteinhaber sie darauf hinweisen, dass bestimmte Inhalte Urheberrechte verletzen. Wie diese Hinweise aussehen sollen, ist aber völlig unklar. Falls die nationalen Gesetzgeber da kluge Vorschriften machen, könnte man etwa Copyright-Trolle ausschließen, die massenhaft unberechtigte Hinweise verschicken.

Und wie steht es um die Upload-Filter, die so viele Menschen fürchten?

Upload-Filter sind die nächste große Wundertüte: Im Idealfall bekommen wir eine offene Datenbank, die hilft, Rechtsansprüche formal und transparent durchzusetzen, mit verfahrensrechtlichen Garantien und Widerspruchsmöglichkeit. Aktuell läuft das alles im Hintergrund: Beschwerden, Reaktionen, Sperrungen, Abmahnungen. Niemand weiß genau, was passiert und wer in wessen Auftrag handelt. Wir haben die Filter schon, sehen sie aber nicht. Eine aufgeklärte Umsetzung ist nicht besonders wahrscheinlich, aber es gibt noch die Chance, dass es weniger schlimm kommt als befürchtet.

Martin Kretschmer ist Professor für Immaterialgüterrecht. Hier spricht er auf der Republica 2019 über den Lobby-Einfluss auf die Urheberrechtsreform. (Foto: Screenshot / Youtube)

Ob sich die Befürchtungen bewahrheiten, liegt auch an der Bundesregierung. Sie hat der Reform in Brüssel zugestimmt, aber in einer Protokollerklärung erläutert, wie sie sich die Umsetzung der Richtlinie vorstellt. Was halten Sie davon?

Diese Positionierung kommt natürlich viel zu spät. Das ist sehr enttäuschend. Aber eine späte Erklärung ist besser als gar keine. Derzeit prescht Frankreich voran. Das Leistungsschutzrecht aus Artikel 15, ein Geschenk für Presseverlage, ist dort bereits im Parlament. Europa soll eine französische Art der Umsetzung aufgedrängt werden, die sich an den Interessen der Musik- und Verlags-Lobby orientiert. Umso wichtiger ist, dass Deutschland seinen Standpunkt deutlich macht. In den kommenden Wochen wird die Kommission versuchen, Einfluss auf die nationale Umsetzung auszuüben. Womöglich kommen wir am Ende doch bei 27 oder 28 unterschiedlichen Gesetzen an. Das wäre genau das Gegenteil dessen, was die Reform ursprünglich erreichen wollte: Es wäre ein Flickenteppich statt eines Binnenmarkts.

So heftig Gegner und Befürworter gestritten haben, in einem waren sie sich einig: Eine Reform ist überfällig. Warum?

Die letzte weitreichende Reform des europäischen Urheberrechts ist fast 20 Jahre alt. Sie hat mit der digitalen Realität von heute wenig zu tun. Wir leben in einer Netzwerkgesellschaft, in der Bürger nicht nur passiv konsumieren, sondern selbst Inhalte erstellen, verändern und kreativ neu zusammensetzen. Dieser Blickwinkel fehlt im Urheberrecht völlig. Es gab eine große Chance, ihn in die neue Richtlinie einzubauen. Man hätte auch die Interessen der Kreativen und der Verwerter getrennt betrachten können. Die sind in der digitalen Welt nämlich nicht mehr zwangsläufig dieselben.

Sie sprechen im Konjunktiv ...

Diese Gedanken tauchen in der Richtlinie leider zu wenig auf. Die Reform ist in den kontroversen Maßnahmen reine Industriepolitik, die wirtschaftlichen Interessen dient: Die Richtlinie sollte Plattenfirmen und Presseverlagen helfen. Das hat geklappt, aber mit einer überfälligen Neuausrichtung des Urheberrechts hat das wenig zu tun. Die Chance wurde verpasst. Vor allem das Presse-Leistungsschutzrecht kann sich eigentlich nur negativ auswirken. Das hat schon in Deutschland und Spanien nicht funktioniert. Dort gibt es ähnliche Gesetze bereits seit 2013 und 2015. Es ist auszuschließen, dass es auf europäischer Ebene anders laufen wird.

Ist alles schlecht an der Reform?

Es gibt einige gute Ansätze in der Richtlinie. Für Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Museen und Archive wird es Privilegien geben, die das digitale Bewahren erleichtern. Vergriffene Werke können unter bestimmten Bedingungen wieder zugänglich gemacht werden. Sinnvoll ist auch das Prinzip einer angemessenen Vergütung für Autoren. Andere Regelungen haben die Verwerter jedoch herausverhandelt, etwa eine wirklich offene Ausnahme für Text-und-Datamining oder das Verbot von Buy-out Verträgen, bei dem Urheber alle Verwertungsrechte abtreten. Die mögliche Wiederbeteiligung der Verleger an der Privatkopievergütung zeigt ebenfalls, dass die Interessen der Verwerter dominieren.

Wie müsste ein Urheberrecht aussehen, das der digitalen Realität gerecht wird?

Eines der großen Probleme des derzeitigen Urheberrechts ist die lange Dauer. Werke werden noch 70 Jahre nach dem Tod des Schöpfers geschützt, können also unter Umständen 140 Jahre lang lizensiert werden. Das resultiert in einer Umverteilung von Vermögen von den Lebenden zu den Toten. Zudem werden viele weniger prominente Inhalte der Öffentlichkeit entzogen. Es lohnt sich nicht, sie am Markt zu halten, also verschwinden sie. Eine radikale Idee wäre es etwa, exklusive Verwertungsverträge auf zehn Jahre zu beschränken. Danach würden die Rechte an die Urheber zurückfallen, die dann erneut Verwertungsverträge schließen könnten. Alternativ könnten die Werke unter kollektiver Verwertung zugänglich gemacht werden. Aber gegen solche neuen Ansätze gibt es eine mächtige Lobby.

Sie haben untersucht, wie viel Einfluss Lobbyvertreter auf die Urheberrechtsreform hatten. Was haben Sie herausgefunden?

Am Ende hat sich der Diskurs auf zwei Gruppen reduziert: etablierte Verwerter wie die Musik- und Verlagsindustrie auf der einen Seite, große Tech-Konzerne auf der anderen Seite. Die Interessen der Kreativen und der Nutzer haben eine untergeordnete Rolle gespielt. Das steht in krassem Gegensatz zum ursprünglichen Vorhaben. Günther Oettinger, der als EU-Kommissar anfangs für die Reform zuständig war, hatte gesagt, dass Nutzer im Zentrum des Geschehens stehen sollten. Das war ein leeres Versprechen.

Welche Seite hat sich durchgesetzt?

Die Verwerter haben immer wieder behauptet, dass große US-Konzerne wie Youtube versuchen, mit massivem Lobbyeinsatz das Urheberrecht aufzuweichen. Tatsächlich war es genau andersherum: Plattenlabels, Filmstudios und Presseverlage hatten den größten Einfluss. Das lässt sich mit Zahlen belegen. Vertreter der Musikindustrie haben sich mit Abstand am häufigsten mit der EU-Kommission getroffen. Danach folgen Verleger, die teils direkten und persönlichen Zugang zu Günther Oettinger und Verhandlungsführer Axel Voss hatten. Wenn man die Treffen zählt, tauchen in den Top 50 fast ausschließlich Verwerter auf. Google ist auf Platz sieben, Facebook auf Platz 47. Die angeblich so mächtige Lobby der US-Plattformen hat in Brüssel relativ wenig zu melden. Das spiegelt sich dann auch im Gesetzestext wider: Die Verwerter stehen in der ersten Reihe. Sie haben die Richtlinie zu einer existenziellen "Frage von Leben und Tod" der europäischen Kultur und Medien erklärt.

Wie lässt sich verhindern, dass Unternehmen direkten Einfluss auf Gesetze nehmen?

Das Wichtigste ist Transparenz. Die Treffen finden hinter verschlossenen Türen statt, die Öffentlichkeit bekommt nichts davon mit. Wir haben keine Ahnung, was im EU-Rat passiert und erfahren nicht mal, wer wann und wie oft mit wem spricht. Es müsste verpflichtend sein, diese Angaben zu veröffentlichen. Das gilt für alle Gesetze, nicht nur für das Urheberrecht. Bei der Reform gab es ein zusätzliches Problem: Verbraucher und unabhängige Kreative sind kaum organisiert. Es gibt zu wenig einflussreiche Verbände und Organisationen. Da müssten Verbraucherschutzministerien einschreiten und sagen: Wir schaffen formale Prozesse, um die Betroffenen zu beteiligen. Sie brauchen genauso Zugang zu Politikern wie Industrievertreter. Das Gleiche könnten Kulturministerien tun, und Kreative mit an den Tisch holen, nicht nur deren Verbandsvertreter.

Google und Facebook verdienen Milliarden und dominieren das Netz. Eignet sich das Urheberrecht, um ihre Macht einzuschränken?

Eins ist klar: Plattformen müssen reguliert werden. Die Macht und das Geld sind problematisch verteilt. Wir suchen noch nach dem geeigneten Mittel, ob nun Steuer- oder Wettbewerbsrecht. Das Urheberrecht ist eigentlich nicht das richtige Instrument, um die Marktmacht der Tech-Plattformen zu begrenzen. Die Richtlinie mag auf Youtube zielen, trifft aber vor allem kleine Anbieter und die Nutzer selbst.

Blicken wir zum Abschluss in die Zukunft: Was für ein Urheberrecht wird sich Deutschland verpassen?

Ich bezweifle, dass die Regierungskoalition bereit ist, die rückwärtsgewandte Richtlinie progressiv umzusetzen. Die Protokollerklärung liest sich gut, aber ich fürchte, dass sie ein Feigenblatt ist. Die Vergangenheit gibt wenig Anlass, optimistisch zu sein. Beim Urheberrecht haben sich meist die Bewahrer durchgesetzt, selten die Modernisierer. Zumindest eine Sache kann Mut machen: Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass öffentlicher Druck hilft. Die SPD hat nachweislich anders verhandelt, weil der Widerstand in Deutschland so laut und deutlich wurde. Der Koalitionsvertrag schließt verpflichtende Upload-Filter aus. Es ist wichtig, die Parteien beim Wort zu nehmen. Es ist noch so viel Spielraum bei der Umsetzung vorhanden, dass sich die Mühe lohnt.

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