Süddeutsche Zeitung

Urbanisierung:Die Kluft zwischen Stadt und Land wird immer größer - zum Glück!

Lange glaubten Soziologen, das Land würde mit der Zeit immer städtischer. Welch ein Irrtum.

Kommentar von Catherine Hoffmann

Es war eine schöne Utopie: In den 70er-Jahren glaubten viele Soziologen, dass sich der Gegensatz von Land und Stadt auflösen wird. Dahinter stand die Hoffnung, dass sich mit zunehmender Mobilität und Digitalisierung auch der Austausch zwischen Metropole und Provinz beschleunigt. Später dann sollte das Internet die räumliche Distanz nivellieren. Während Landwirtschaft und bäuerliche Lebensweise an Bedeutung verloren, sprachen die Optimisten von der Urbanisierung des Landes.

Welch Irrtum! Seit Jahrhunderten lässt sich weltweit ein Trend zur Verstädterung beobachten, und er hält ungebrochen an. Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt - da macht Deutschland keine Ausnahme. Wer etwas Neues aus sich machen will, ein Studium beginnt oder einen guten Job sucht, wer Anregung und frische Ideen braucht, der wird dafür eher in die Stadt gehen.

Deutschland braucht urbane Zentren, will es auch in Zukunft innovativ sein

Für die Entwicklung der regionalen Wirtschaft ist die Anziehungskraft der Städte von zentraler Bedeutung. Hier fühlen sich die Menschen wohl, die etwas erfinden und vorankommen wollen. Der Ökonom Richard Florida hat sie die "kreative Klasse" genannt. Seine Theorie besagt, dass die Städte nicht mehr wie früher versuchen sollten, Unternehmen anzuwerben, sondern Menschen, und zwar die richtigen: Künstler, Gründer, Akademiker. Nun ist dieser Gedanke ebenso elitär wie streitbar. Ganz von der Hand zu weisen ist die Idee aber nicht.

Es braucht vor allem drei Dinge, um die wirtschaftliche Entwicklung von Regionen voranzutreiben: Technologie, Talente mit Unternehmersinn und Kreativität. Sie sind der Schlüssel zu gegenwärtigem und zukünftigem Wachstum, sie helfen, im internationalen Wettbewerb um die attraktivsten Standorte mitzuhalten. Technologie heißt: innovative Unternehmen, die in Zukunftsbranchen tätig sind wie IT, Telekommunikation, Mobilität. Talente sind gut ausgebildete Menschen, die in einer alternden Gesellschaft künftig knapper werden. Investitionen in den Bildungssektor, vor allem in erstklassige Hochschulen, sind deshalb wichtig. Und schließlich braucht es ein Milieu der Offenheit und Vielfalt, in dem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und sich mit Toleranz begegnen. Regionen, in denen sich all dies findet, dürfen mit wirtschaftlichem Erfolg rechnen.

In Deutschland zählen dazu die Großräume München, Stuttgart, Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Hier ist auch der Wohlstand der Bevölkerung am größten - mit der Ausnahme Berlins, das allerdings gerade aufholt. Auf den letzten Plätzen finden sich dagegen Landkreise wie Südwestpfalz, Regen, Nordfriesland und weite Landstriche im Osten der Republik.

Die Metropolregionen in Deutschland sind Anziehungspunkte für Zuwanderer, allen voran München. Die bayerische Landeshauptstadt boomt, die Arbeitslosenquote liegt bei vier Prozent. In den Städten konzentrieren sich wissensintensive Dienstleistungsbranchen, forschungsstarke Industrien und exzellente Hochschulen. Deutschland braucht die urbanen Zentren, will es innovativ bleiben und den sinkenden Produktivitäts- und Wachstumszahlen entgegenwirken.

Die Utopie der 70er wird niemals eintreten

Der Preis dafür ist eine starke Polarisierung der räumlichen Entwicklung, die in einem Widerspruch steht zum grundgesetzlichen Postulat gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Wenn immer mehr Menschen in Ballungsräume ziehen, bleiben Gemeinden zurück, die um ihre Zukunft bangen, in denen vor allem alte Menschen leben. Postämter und Banken werden aufgegeben, Geschäfte und Gasthäuser sperren allenfalls abends noch auf oder stehen seit Jahren leer.

Die Landflucht ist ein Problem. Doch gute Rezepte für den Umgang mit dem Unvermeidlichen sind schwer zu finden. Unternehmen werden nicht allein deshalb auf dem Land investieren, weil es dafür staatliche Fördermittel gibt, wenn es schon heute an qualifizierten Arbeitskräften mangelt. Milliarden für Infrastruktur werden das Schrumpfen der Landbevölkerung auch nicht aufhalten können.

Es gibt zwar Perspektiven für den ländlichen Raum: Orte in verkehrsgünstiger Lage unweit von städtischen Zentren haben es am einfachsten - sie bieten schon heute günstige und grüne Rückzugsbereiche für Städter. Oder Erholungsraum für Touristen. Auch der Trend zu regionalen Produkten bietet Chancen: Viele Städter wünschen, dass Nahrungsmittel aus der unmittelbaren Umgebung geliefert werden, frisch und bio soll es sein. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass Urlauber und Biolandwirtschaft der Landflucht flächendeckend entgegenwirken. Die schöne Utopie von einst, sie wird nicht kommen.

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SZ vom 08.12.2016/vit
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