Auf dem Feld des Bauern Yoshida hat sich das bunte Volk der Teilnehmenden in Position gebracht. Aber bevor der Wettbewerb im Rettichziehen beginnen kann, haben der Bürgermeister und andere Honoratioren ihren Einsatz auf der kleinen Bühne vor den Ackerfurchen. Grußworte, eines nach dem anderen.
Es dauert ein bisschen, ehe jeder der Herren seiner Freude Ausdruck verliehen hat über diesen Traditionswettbewerb im Besonderen und die japanische Landwirtschaft im Allgemeinen. Dafür ist der Vortrag zur Regelkunde kurz. Denn auch wenn hier nicht irgendein Gemüse aus der Erde geholt werden soll, sondern der Nerima-Daikon, eine große, der Legende nach besonders schwer zu erntende Version des Gartenrettichs Raphanus sativus - die Vorgaben sind klar: Wer binnen eineinhalb Minuten die meisten Rettiche zieht, gewinnt. Wer den Rettich mit der lustigsten Form vorlegt, gewinnt einen Sonderpreis.
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Der Herbizid-Hersteller gab auch in Deutschland Expertisen in Auftrag und nutzte diese zu Lobbyzwecken. Autor war einer der führenden Agrarwissenschaftler des Landes. Wurden so politische Entscheidungen mit unethischen Mitteln verzerrt?
Bald darauf schrillt eine Trillerpfeife zum Start. Unter den wachsamen Augen des Kampfgerichts beugen sich Männer und Frauen über das Grün, greifen die Stiele, ziehen daran mit dosierter Kraft, ernten, was sie ernten können. Kinder feiern ihre Väter, Mütter tragen stolz ihre weiße Beute davon. Drüben bei den Zelten schenken Frauen mit rosigen Wangen Rettichsuppe aus. Über der Szene liegt der bewegte Frieden eines Dorffests auf dem Land.
Allerdings feiert hier kein Dorf und kein Landvolk. Das Feld des Bauern Shigeo Yoshida liegt zwischen Wohnblocks, Straßen und Oberlandleitungen. Es ist ein sonniger Samstagvormittag in Nerima, einem Stadtteil im Westen der riesigen japanischen Hightech-Metropole Tokio.
Es vollzieht sich eine Auflehnung in den großen Städten dieser Welt. Dort, wo die Landwirtschaft angeblich für immer unter Asphalt begraben liegt, bäumt sie sich auf im Sinne eines neuen grünen Zeitgeists, der die grauen Wirtschaftswelten nicht mehr sich selbst überlassen will. Urban Agriculture, Landwirtschaft in der Stadt, ist ein Trend, der vor einigen Jahren begonnen hat und der wohl so schnell nicht mehr weggehen wird. Nach vielen Jahrhunderten, in denen die Städte rücksichtlos über sich hinausgewachsen sind und einen Acker nach dem anderen geschluckt haben, erobern Bürgerinnen und Bürger nun kleine Parzellen zurück oder bearbeiten übrig gebliebene Grünflächen. So tragen sie den Anspruch einer nachhaltigen Selbstversorgung an Millionen andere Menschen heran, die bisher immer dachten, Kohl und Karotten könnten nur auf dem Land wachsen.
In Tokio gibt es diese Bewegung auch. Und das ist ein starkes Zeichen, denn auf den ersten Blick ist Tokio mit seinen starren Wolkenkratzer-Wäldern, seiner dichten, meist gartenlosen Bebauung, seinen verschlungenen Verkehrsadern und einbetonierten Flüssen vor allem ein anschauliches Beispiel für die konsequente Verdrängung von Grünland. 73 Prozent der japanischen Inseln sind von schwer zu bewirtschaftendem Bergland bedeckt. Den Menschen hier bleibt nur relativ wenig Raum zum Siedeln, deshalb nutzen sie praktisch jeden Zentimeter zwischen den Bergen.
Nerima ist tatsächlich so etwas wie eine Tokioter Oase des Ackerbaus
38,5 Millionen Menschen leben in Tokios Metropolregion. Wenn man vom Hauptbahnhof mit dem Zug durch die Kanto-Ebene Richtung Südwesten fährt, erlebt man, dass die Gegend von einem einzigen mächtigen Häuserteppich bedeckt ist, in dem keine Grenzen zu erkennen sind zwischen Tokio und Nachbarstädten wie Kawasaki und Yokohama.
Dass in diesen grauen Weiten mehr landwirtschaftliche Flächen stecken als das Reisfeld im Kaiserpalast, das der Tenno als Hohepriester des Shintoismus bestellt, kann man sich zunächst gar nicht vorstellen. Aber Nerima ist tatsächlich so etwas wie eine Tokioter Oase des Ackerbaus. Lange haben die Landwirte hier um den Bestand ihrer Felder gekämpft. Heute stellen sie zufrieden fest, dass sich ihre Arbeit wachsender Beliebtheit erfreut.
Der Stadtbauer Shigeo Yoshida steht im Trubel des Rettich-Preiserntens und lächelt. Er ist ein klein gewachsener, drahtiger Mann. Seinen kräftigen Händen sieht man an, dass sie regelmäßig auf dem Feld arbeiten. Er trägt die signalgrüne Veranstalterjacke mit einer Stoffrose am Revers, die ihn als Mitglied des Landwirtschaftskomitees des Tokioter Stadtteils Nerima auszeichnet. Es ist ein besonderer Tag für ihn, denn dieses Jahr gehört das traditionelle Daikon-Ziehen auf seinem Feld zum Programm des Weltgipfels für städtische Landwirtschaft. Kolleginnen und Kollegen aus fünf Ländern sind angereist, Fernsehteams sind da. Nerimas Landwirtschaft bekommt eine Bühne. Außerdem ist der Rettich in diesem Jahr besonders gut gewachsen trotz Sommerhitze und diversen Taifunen, was Shigeo Yoshida, 61, in seiner bescheidenen Art auf eine Mischung aus Glück und Geschick im Umgang mit den Pflanzen zurückführt.
Seine Familie ist eine von etwa 470, die in Nerima Felder besitzen, bestellen und mit ihrer Ernte am örtlichen Lebensmittelhandel teilhaben. "Ich bin ungefähr die 18. Generation", sagt Shigeo Yoshida. 18. Generation? Demnach haben die Yoshidas schon im 16. Jahrhundert Kulturpflanzen angebaut, als in Japan kriegerische Zeiten herrschten.
Shigeo Yoshida selbst übernahm das Familiengeschäft vor 30 Jahren nach dem Studium und frühen Jahren in einer örtlichen Eventagentur. Auf 9000 Quadratmetern Land baut er nicht nur Rettich an, sondern auch Blumenkohl, Kohl und Karotten. Er verkauft das Gemüse an die städtischen Schulen für das Mittagessen dort und an örtliche Supermärkte. "Zehn Millionen Yen nehme ich mit dem Gemüse jährlich ein", sagt er. 800 000 Euro. Brutto. Eine Million Yen beträgt der Reingewinn, die Kosten für Personal, Maschinen, Dünger und Pflanzenschutzmittel sind hoch. Shigeo Yoshida ist damit einer der größeren Bauern in Nerima und auch einer der Antreiber eines Aufschwungs - der allerdings einen etwas anderen Ausgangspunkt hatte als die diversen landwirtschaftlichen Erfolgsprojekte in westlichen Großstädten wie New York, London oder Toronto.
Die Wahrnehmung, dass Tokio eine Stadt sei, ist streng genommen falsch. Tokio ist eine Präfektur mit unter anderem 23 weitestgehend eigenständigen Bezirken, zu denen auch Nerima gehört. 720 000 Menschen leben dort auf 48 Quadratkilometern, die teilweise so dicht bebaut sind wie der Grund anderer Bezirke auch. Aber Nerima und das sich nahtlos anfügende Stadtgebiet von Nishitokyo weisen auch ruhige Wohngegenden auf, in denen viele Felder das Bild prägen. Sie liegen wie Schauräume des Ackerbaus zwischen den Häusern. Vom Balkon aus können viele Nachbarn beobachten, wie die Bauern ihre Saat ausbringen, die Pflanzen pflegen, die Ernte einholen. Manche von ihnen sind schon ziemlich alt. Trotzdem stehen sie mit der Hacke in den Furchen und bearbeiten das Land im Schatten ihrer breitkrempigen Hüte, wie das schon ihre Urahnen getan haben. Bäuerliche Idylle im urbanen Gebiet.
In den großen Städten des Westens trotzen Grünlandfreunde dem bebauten Gebiet Hinterhöfe ab, legen Felder an, wo vorher keine waren, oder nutzen Häuserdächer. Die Felder von Nerima dagegen waren schon da, als Tokio noch Edo hieß. Aber ihre Besitzer mussten sie mit Beharrlichkeit und Mut gegen die Übergriffe der Industriegesellschaft verteidigen. Sie wären im japanischen Nachkriegsboom verloren gegangen, wenn es nicht einen ganz unjapanischen Widerstand gegeben hätte gegen die Tendenz, fast jeden Flecken Erde zum Wohngebiet für die damals wachsende Tokio-Bevölkerung umzubauen.
Der Bürgermeister sieht in den städtischen Feldern eine Touristenattraktion
So erzählt es zumindest Hisashi Tezuka, der schon anhand seines Namenschildes beweisen kann, dass Nerima anders ist als andere Bezirke in Tokio. Mit gewissem Stolz zeigt er es her: Es weist ihn als Leiter der Abteilung Landwirtschaft im Bezirksamt aus. "Wir sind die Einzigen, die eine solche Abteilung haben." Landwirtschaft ist für Nerima zum Imagefaktor geworden.
Der Bezirk kann sich damit abheben vom großen, teilweise todschicken Rest Tokios und eine andere Art von Zukunftsdenken präsentieren, das ausnahmsweise mal nichts mit Robotern, Hochgeschwindigkeitsinternet und futuristischer Architektur zu tun hat. Sondern mit einem neuen Bewusstsein für den Wert von Grund und Boden, nachhaltiger Lebensmittelproduktion und Abkehr von der Turboverstädterung. Das grüne Bekenntnis soll Nerima attraktiv für junge Familien machen und auch das Profil als Wirtschaftsstandort schärfen. Bürgermeister Akio Maekawa sagt: "Ich würde die Landwirtschaft gerne als Tourismus-Ressource nutzen."
Aber wie gesagt, ein Selbstläufer war die Entwicklung nicht. Hisashi Tezuka sitzt im Bürgerhaus von Nerima, dem Schauplatz des Weltgipfels, den er federführend organisiert hat. Im großen Saal läuft die Vorstellung der internationalen Projekte mit anschließender Podiumsdiskussion. Und Tezuka richtet den Blick erst mal weit zurück bis in die Edo-Zeit zwischen 1603 und 1868, als Japan sich unter der Macht der Tokugawa-Shogune so sehr vom Rest der Welt abgekapselt hatte, dass der Inselstaat sich selbst genügen musste.
Nerima war damals so etwas wie die Vorratskammer der Hauptstadt Edo, berühmt für seine enormen Rettiche. Und es behielt seinen Ruf auch noch lange nach der Öffnung 1868, als der Kaiser von Kyoto in die alte Tokugawa-Burg, den heutigen Kaiserpalast, umzog und Edo in Tokio, "Hauptstadt des Ostens", umbenannt wurde. Bis in die 1950er-Jahre hinein bestand Nerima vor allem aus Farmland. Aber Tokio wuchs, und 1968 erklärte ein neues Gesetz alle 23 Bezirke Tokios zum Stadtentwicklungsgebiet für mehr Wohnraum. "Die Bauern haben sich damals gewehrt", sagt Hisashi Tezuka, "sie wollten ihre alten Familienbetriebe nicht aufgeben."
Tokios Westen entwickelte sich langsamer als der Rest der Präfektur. Nerimas Bauern hatten deshalb mehr Zeit, sich klarzumachen, dass sie sich vom sogenannten Fortschritt nicht wegfegen lassen wollten wie die Kollegen in anderen Stadtteilen. Sie veranstalteten Protestparaden mit ihren Traktoren vor dem Nationalparlament und verhandelten mit der städtischen Politik, um die geplante Grundsteuererhöhung abzuschwächen. Mit Erfolg. Hisashi Tezuka lächelt. "Bauern aus Nerima scheinen einen stärkeren Willen zu besitzen als andere, wenn es darum geht, ihr Farmland zu behaupten", sagt er.
Ihre gesunde Sturheit hat den Bauern dann auch später geholfen. Denn vor allem in den Jahren des Booms galt die Landwirtschaft in Tokio als etwas, das nicht in die Stadt gehörte. Die Nachbarn störte der Geruch des Dungs und die Nähe zum Pflanzenschutzgift. Die Bauern überlegten, wie sie ihr Gewerbe beliebter machen könnten. Sie ließen sich auf die Wünsche der Leute ein, erweiterten ihre Produktpalette, bauten also mehr Sorten an, eröffneten Straßenstände, stellten Verkaufsautomaten mit Gemüse der Saison auf. Sie ließen sogar die Einheimischen gegen Gebühr auf ihre Felder, damit sie dort selbst Gemüse anbauen konnten. Sie zeigten den Wert des Salats aus dem eigenen Kiez.
Heute sind die Bauern in Nerima so etwas wie Lokalhelden des Alltags. Auch deshalb unterstützt die Stadt die urbane Landwirtschaft: weil sie Leute zusammenbringt und das Bewusstsein für gesunde Ernährung schärft. "Wir sehen den Wert, der über den reinen Gemüseanbau hinausgeht", sagt Hisashi Tezuka. Zumal sich eigentlich auch keiner mehr darüber beschweren kann, dass das Farmland wichtigen Wohnraum kostet. Japans Bevölkerung wird weniger, Tezuka sagt, in Nerima stünden etwa 500 Häuser und Wohnungen leer. Eher schon fehlen Nachfolger für den einen oder anderen Bauern.
Lob gibt es von einer Stadtbäuerin aus New York
"Faszinierend", sagt Liz Neumark, Ernährungspionierin aus New York City. Ihren Vortrag im Bürgersaal hat sie vorhin damit eröffnet, dass sie in Richtung Nerima gesagt hat: "Ich habe viel von Ihnen gelernt." Jetzt denkt sie laut darüber nach, was genau sie eigentlich von Nerima gelernt hat. Stadtlandwirtschaft in New York ist ganz anders als in Tokio. Sie ist eher wie in London und Toronto, ein Projekt für sozialen Ausgleich, Integration von Randgruppen in der Vielfaltsgesellschaft, Umweltschutz und gesunde Alternativen zur Billigburger-Kultur.
Liz Neumark hat nicht nur einen Catering-Service gegründet, der seine Zutaten heute aus dem eigenen Biobauernhof in Kinderhook in der Nähe von New York City, bezieht, sondern auch ein gemeinnütziges Zentrum für Ernährungserziehung und Jugendentwicklung. Sie gehört damit zu einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten, die mit nachhaltiger Lebensmittelproduktion und organischen Wertschöpfungsketten die Probleme einer freien Stadtgesellschaft angreift. Sie erobern den Raum für ein grüneres Leben zurück, sie verändern die Städte. "Das ist ein politisches Statement", sagt Liz Neumark.
In Nerima sieht sie eine auf Ertrag ausgerichtete Hochleistungslandwirtschaft, die ihre Tradition gegen andere wirtschaftliche Interessen verteidigt hat. Sie denkt wohl an das dicht bebaute Daikonfeld des Bauern Yoshida, an die dicken Rettiche, die dort aus der Erde kamen, an die Chemie, die nach den Regeln der konventionellen Pflanzenaufzucht vermutlich in dieses Gemüse geflossen ist. "Es ist sehr intensiv", sagt Liz Neumark, "sie passen sich hier der Stadt an, statt dass sie die Stadt dazu bringen, sich an sie anzupassen." Sie hat eine andere Vorstellung von urbaner Landwirtschaft. Aber sie will Nerimas Bauern nicht mit ihrer hohen Moral beleidigen. Warum auch? "Es sind unterschiedliche Zugänge", sagt sie. "Am Ende kommen alle zu demselben Schluss: Es gibt keinen Zweifel, dass jeder große grüne Fußabdruck in der Stadt alle glücklicher macht."
An der jeweiligen Art der Stadtlandwirtschaft sieht man die Unterschiede zwischen Tokio und den großen Metropolen des Westens. Es gibt in Nerima keine Vielfaltsgesellschaft, kaum Bedarf an Integration von Randgruppen, keine dramatischen sozialen Unterschiede. Stattdessen japanische Ordnung, eine ohnehin schon ziemlich gesunde Essenskultur und eher wenig Umweltbewusstsein. Hier kann man Felder noch ohne politischen Anspruch beackern und rausholen, was der Boden hergibt. Wobei Shigeo Yoshida bezeugen kann, dass gerade die Landwirtschaft in den versiegelten Räumen der Stadt Rücksicht nehmen muss.
Er verwendet weniger Pflanzenschutzmittel als Bauern auf dem Land, damit die Nachbarn sich nicht beschweren können. Seine Felder düngt er mit Pferdemist aus den Reitklubs Tokioter Universitäten. Und dass die örtlichen Supermärkte sein Gemüse unter seinem Namen verkaufen, ist ein Umstand, um den ihn mancher Food-Aktivist in London beneiden dürfte, weil die Supermärkte dort auf billige Massenware setzen und deshalb keine lokalen Produkte in ihre Regale lassen.
"Öko-Farm Yoshida" nennt der Bauer Yoshida seinen Betrieb. Er ist überzeugt von der schonenderen Art, mit der er Gemüse produziert. Er sagt: "Das schmeckt einfach anders." Und seine Rettiche sind Prachtexemplare, die auch starke Männer nicht so leicht aus der Erde bekommen. Wie es sich gehört für einen echten Daikon aus Nerima.