Unterschiedliche Statistiken:Kinderarmut niedriger als angenommen

Wann gilt ein Kind als arm? Fragt man das drei Statistiker, erhält man am Ende vier Antworten, die sich eklatant unterscheiden. Fakt ist: Die Lage von benachteiligten Familien lässt sich dramatisieren oder beschönigen - je nachdem, welche Definitionen und Daten man heranzieht. Doch es scheint eine positive Tendenz zu geben.

Felix Berth

Wenn man drei Experten fragt, wie verbreitet Kinderarmut in Deutschland ist, erhält man vier Antworten. Die OECD stellte vor wenigen Tagen fest, dass nur 8,3 Prozent der Kinder von Armut bedroht seien - ein sehr niedriger Wert, mit dem die Bundesrepublik im internationalen Vergleich hervorragend dastünde. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dagegen hatte vor wenigen Wochen eine andere Zahl veröffentlicht.

Das Projekt 'Arche' in Berlin

Die Angaben zur Kinderarmutsquote in Deutschland schwanken.

(Foto: dpa)

Demnach erhalten 16 Prozent aller Kinder Hartz-IV-Leistungen. Von Armut betroffen sei jedes vierte Kind - das wäre ein extrem hoher Wert. Die OECD selbst wiederum hatte vor zwei Jahren noch geschrieben, die Quote der armen Kinder liege bei 16,3 Prozent.

8,3 Prozent, 16,3 oder 25 - man kann daraus den Schluss ziehen, keiner Statistik mehr zu trauen. Oder man fragt, wie welche Ergebnisse entstanden sind: An welchen Stellschrauben kann ein Statistiker drehen, wenn er Armutsquoten berechnet? Und wie kommt man zu Ergebnissen, die die Realität wenig verzerren?

Wann ist jemand arm?

Bei welchem Einkommen Armut beginnt, ist Definitionssache. Eine gängige Definition zieht die Grenze bei fünfzig Prozent des mittleren Einkommens. Hat jemand weniger als die Hälfte dessen, was seine Mitmenschen ausgeben können, zählt er zu den Armen.

Doch in den letzten Jahren hat sich auch eine Sechzig-Prozent-Schwelle etabliert. Das verändert das Bild stark: Im Jahr 2008 lagen nur 8,3 Prozent aller Kinder in Deutschland unter der Fünfzig-Prozent-Schwelle - das ist der jüngste Wert der OECD. Bei der Sechzig-Prozent-Schwelle sind es - bei gleicher Datenbasis des Sozio-ökonomischen Panels - sofort 14,9 Prozent. "Da gibt es kein richtig oder falsch", sagt Markus Grabka, der diese Daten ausgewertet hat.

Eine Frage des Zeitraums

Grabka rät deshalb, nicht auf einzelne Armutsquoten zu starren, sondern die Entwicklung über mehrere Jahre hinweg zu betrachten. Dabei zeigt sich: Kinderarmut in Deutschland ist zwischen 2004 und 2008 leicht gesunken. Bei der Fünfzig- wie bei der Sechzig-Prozent-Schwelle war es ein Rückgang um knapp zwei Prozentpunkte.

In diesen Jahren fanden viele Arbeitslose wieder einen Job; bei Kindergeld und Elterngeld war der deutsche Staat großzügig. Diesen Trend kann man unterschiedlich interpretieren: Man kann die positive Entwicklung betonen - oder wie Grabka feststellen, dass das Niveau der Kinderarmut hoch blieb: "Kinderarmut bleibt das zentrale sozialpolitische Problem in Deutschland", sagt er.

Heikel wird die Berechnung der Kinderarmut, wenn Eltern bei Umfragen nicht antworten. Normalerweise können Wissenschaftler solche Fragebögen gar nicht auswerten. Beim renommierten Sozio-ökonomischen Panel ist die Sache schwieriger: Da werden jedes Jahr mehr als zehntausend Haushalte befragt, und alle Erwachsenen in einem Haushalt sollen antworten. In den letzten Jahren stieg die Zahl der unvollständigen Antworten: Zwar gab ein Elternteil Auskunft, doch der andere war entweder nicht da oder verweigerte sich.

Als diese Fälle noch selten waren, vernachlässigte man das Einkommen der Antwortmuffel. Das Haushaltseinkommen fiel bei ihnen eben niedriger aus. Inzwischen rechnen Grabka und seine Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit Korrekturfaktoren. Sie weisen jedem Antwortmuffel ein Einkommen zu. Deren Haushalte werden statistisch wohlhabender, und die Armutsquoten sinken. Für das Jahr 2004 zeigte sich, dass die Kinderarmut von 16,3 Prozent auf 10,0 Prozent sank. Das erklärt auch, warum die alten Werte der OECD so viel höher sind als die neuen.

Welche Werte bilden nun die Realität am besten ab? Die alten OECD-Werte waren wohl zu hoch, die neuen sind realistischer. Ein Vergleich mit Hartz-IV-Quoten bestätigt dies: Etwa 15 Prozent aller deutschen Kinder leben bei Eltern, die auf Hartz IV angewiesen sind. In armen Städten wie Berlin muss fast jedes dritte Kind mit diesem Armutsrisiko leben.

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