Süddeutsche Zeitung

Ungleichheit in Russland:Hungern und prassen

In Russland werden die Reichen reicher, während sich zwei Drittel der Haushalte noch nicht einmal eine neue Waschmaschine leisten können, zeigen neue Zahlen. Experten sind sich einig: Das ist gefährlich.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Seit der regierungsnahe Bürokrat Pawel Malkow im vergangenen Dezember die Leitung des russischen Statistikamts Rosstat übernommen hat, gerät es immer wieder in Verdacht, mit geschönten Wirtschaftsdaten die öffentliche Stimmung zu Gunsten des Kremls beeinflussen zu wollen.

Auch die Rosstat-Zahlen, die am Dienstag an die Öffentlichkeit gelangten, sollten die Bevölkerung offensichtlich bei Laune halten. Was allerdings gar nicht so leicht zu vermitteln war, obwohl die Erhebung nach Auffassung von Tatjana Ewdokimowa, Chefvolkswirtin der Bank Nordea Russland, in diesem Fall wohl seriös ist: "Die erhobene Stichprobe von 48 000 befragten Haushalten ist sehr hoch", sagte die Ökonomin der SZ: "Sie erlaubt wirklich repräsentative Aussagen."

Doch das Problem war, dass sich die Meldung dieses Mal auf den ersten Blick eher wie eine schlechte Nachricht las: "Der Anteil der Familien, die sich außer Kleidung und Nahrungsmitteln nichts leisten können, ist nach Angaben von Rosstat gestiegen", titelte die russische Wirtschaftszeitung RBK.

Erst die Unterzeile der Überschrift deutete an, dass das eigentlich als eine frohe Botschaft zu verstehen war. Der Anteil der russischen Familien, deren Einkommen gerade ausreicht, um ihren Hunger zu stillen und sich ordentlich anzuziehen, sei im zweiten Quartal 2019 im Vergleich zum Vorjahresquartal von 48,8 auf 49,4 Prozent gestiegen - dies beruhe aber vor allem darauf, dass es weniger Menschen gebe, denen es noch schlechter gehe: Der Anteil jener Familien, die sich außer Nahrungsmitteln gar nichts leisten könnten, sei im selben Zeitraum von 16,1 auf 14,1 Prozent gesunken, so Rosstat.

Traut man den neuen Zahlen der russischen Statistikbehörde, so ist es für das Siebtel am unteren Ende der russischen Einkommensverteilung im vergangenen Jahr also etwas aufwärts gegangen. Doch dieser Aspekt ging in den russischen Medien vollkommen unter, die die Daten vor allem negativ interpretierten: Knapp zwei Drittel aller russischen Haushalte (63,5 Prozent) seien nicht in der Lage, langlebige Konsumgüter wie einen neuen Computer oder eine Waschmaschine zu erwerben, betonte etwa die Moscow Times.

Extrem ungleiche Vermögensverteilung

Dies ist eine niederschmetternde Bestandsaufnahme für ein Land, das nach Plänen des Präsidenten Wladimir Putin bis zum Jahr 2024 vom derzeitigen Rang elf der größten Volkswirtschaften der Welt mindestens auf Position fünf rücken will.

Da wog es umso schwerer, dass die Credit Suisse nur einen Tag vor dem Rosstat-Bericht ihren jährlichen "Global Wealth Report" vorlegte, aus dem hervorging, dass es in Russland durchaus auch Familien mit Einkommen und Vermögen in schwindelerregender Höhe gibt, die noch dazu jedes Jahr kräftig wachsen.

Demnach erhöhte sich die Zahl der russischen Dollar-Milliardäre in den vergangenen zwölf Monaten von 74 auf 110. Zehn Prozent der reichsten Russen verfügen nach Angaben der Credit Suisse nun über 83 Prozent des gesamten Vermögens in Russland, was deutlich über dem Vergleichswert in den USA (76 Prozent) liegt, in denen das Vermögen traditionell sehr ungleich verteilt ist.

"Problem mit der Umverteilung der Einkommen"

Die öffentliche Kritik der Experten an diesem immer heftigeren Verstoß gegen die Verteilungsgerechtigkeit blieb nicht aus: "Der 'Global Wealth Report' belegt, dass die Konzentration der Vermögen bei uns schneller voranschreitet als im Rest der Welt, sagte Igor Nikolaew, Analyst der russischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft FBK russischen Medien: "Alles spricht dafür, dass wir ein Problem mit der Umverteilung der Einkommen haben." Denn in Russland seien nicht nur die Einkommen zwischen reichen und armen Bürgern sehr ungleich verteilt, so der Experte, sondern auch zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor: "So hat etwa der Bundeshaushalt im vergangenen Jahr einen Einnahmenzuwachs von 17,2 Prozent verzeichnet, während die Realeinkommen der privaten Unternehmen mit 6,2 Prozent deutlich schwächer gewachsen sind. Auch Rosstat konnte mit all seinen Tricksereien gerade mal erreichen, dass die Realeinkommen insgesamt offiziell um mickrige 0,2 Prozent gewachsen sind."

Auch Nikita Maslennikow, Berater der Moskauer Denkfabrik INSOR, ist wegen der Entwicklung beunruhigt, die der "Global Wealth Report" für Russland aufzeigt: "Noch sind soziale Unruhen unwahrscheinlich, sagte er dem Moskowski Komsomolez, "aber wenn das Kapital nicht in die Realwirtschaft fließt, keine Jobs geschaffen werden, und es stattdessen fast nur in Finanztransaktionen gesteckt wird, verliert die Wirtschaft weiter an Schwung. Früher oder später wird das in einer schweren Krise enden."

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Quelle:
SZ vom 28.10.2019
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