Ungleichheit in Deutschland:Streit über Ungleichheit: Deutschland "kein soziales Notstandsgebiet"

Marcel Fratzscher, chairman of the German Institute for Economic Research, speaks during an interview with Reuters in his office in Berlin, Germany

Großer Einfluss in der Politik: DIW-Präsident und Buchautor Marcel Fratzscher in seinem Büro in der Berliner Innenstadt.

(Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)

"Verteilungskampf" ist das Stichwort. CDU und SPD streiten über das neue Buch von DIW-Chef Marcel Fratzscher.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

"Verteilungskampf" ist das Stichwort, unter dem das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für Montag in seine Räume geladen hat. DIW-Chef Marcel Fratzscher will sein Buch mit dem provozierenden Titel "Verteilungskampf - warum Deutschland immer ungleicher wird" vorstellen. Doch keine 24 Stunden nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, deren Ergebnisse die Parteienwelt durcheinanderwirbeln, geht es in der Veranstaltung weniger um ökonomische Fakten als um deren Deutungshoheit.

Das liegt an den Protagonisten, die mit Fratzscher auf dem Podium sitzen. Beide gelten in ihrer jeweiligen Partei als Hoffnungsträger: Jens Spahn, 35, forsch, zuversichtlich, verbal austeilend und zugleich Brücken bauend, ist parlamentarischer Finanzstaatssekretär und CDU-Präsidiumsmitglied - und nach der jüngsten Wahlniederlage seiner Parteikollegin Julia Klöckner einer der aussichtsreichsten christdemokratischen Anwärter auf politische Spitzenämter. Auf der anderen Seite Martin Schulz, 60, wahlkampferprobt und sprachbegabt, ist Präsident des Europäischen Parlaments. Er hat es als SPD-Spitzenkandidat bei der letzten Europawahl 2014 geschafft, mehr Prozente für die SPD in Deutschland zu holen, als die Partei bei der Bundestagswahl im Jahr 2013 erreichte - die gut 27 Prozent gelten seither als Spitzenergebnis für die Sozialdemokratie.

Schulz sagt, Fratzschers Buchvorstellung sei ein Pflichttermin gewesen

Am Tag nach dem Wahlsonntag sind Spahn und Schulz eigentlich nicht in der Stimmung, über Chancengleichheit in Deutschland zu sprechen. Spahn räumt freimütig ein, er habe bei der Zusage für diesen Termin nicht geahnt, was für ein "Tag der Nachdeutungen" dieser Montag sein werde. Er habe wenig Zeit, müsse zur Präsidiumssitzung gleich anschließend. Ob angesichts der Stimmenverluste in allen drei Bundesländern jetzt der Kurs von Bundeskanzlerin (und CDU-Chefin) Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik korrigiert werde? Spahn setzt sich gerade auf, nein, sagt er, wir werden den Kurs fortsetzen, "vielleicht werden wir den Ansatz breiter wählen", um deutlich zu machen, welche Schrauben noch gedreht werden müssten, damit die Zahl der Flüchtlinge deutlich sinke.

Schulz sagt, Fratzschers Buchvorstellung sei ein Pflichttermin gewesen, "weil ein Sozi so ein Buch mit Wohlwollen liest". Wenn nämlich Vermögen in Deutschland immer ungleicher verteilt sei und die Chancen auf Bildung und Aufstieg für Menschen ohne Vermögen immer schlechter würden, bedeute das im Umkehrschluss, dass das sozialdemokratische Zeitalter, also der Kampf um mehr Gerechtigkeit, "gerade erst begonnen hat".

Spahn schweigt, Schulz grinst

Spahn kontert, wenn die Wahlergebnisse vom Sonntag der Start des sozialdemokratischen Zeitalters gewesen seien, "dann werden wir mal sehen, was noch kommt". Und überhaupt, wer Fratzscher und Schulz zuhöre, den könne das Gefühl beschleichen, dass Deutschland "ein soziales Notstandsgebiet" sei - was die aktuelle Lage natürlich nicht hergebe.

Und dann nimmt sich Spahn eine Anleihe bei Merkel, die jüngst in einem Fernsehinterview bedauerte, dass sich die SPD unter Wert verkaufe. Es sei schade, dass Schulz nicht unterstreiche, "was die SPD in den letzten Jahren aller erreicht hat", formuliert es Spahn. Etwa bei den Renten.

Noch bevor Schulz darauf antworten kann, greift Fratzscher ein. Die Rente sei kein gutes Beispiel, die stelle doch keinen Vermögenswert dar. Außerdem: Das deutsche Rentenniveau liege bei 52 Prozent der Lebensleistung - im internationalen Durchschnitt bekämen die Bürger 62 Prozent. Hoffnungsträger Spahn schweigt, Schulz grinst, und dann müssen beide los.

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