Ungleichheit in Deutschland:Armut gibt's in Deutschland doch gar nicht

Ungleichheit in Deutschland: Sie kauft im Bioladen, er bei Aldi: Bei ganz Alltäglichem zeigen sich die Unterschiede.

Sie kauft im Bioladen, er bei Aldi: Bei ganz Alltäglichem zeigen sich die Unterschiede.

Eine Frau, ein Mann: Sie verdient etwa dreimal so viel wie er - bei weniger Arbeitszeit. Unfair? Ein Gespräch über Armut, Reichtum und die Frage, ob man alles schaffen kann, wenn man nur will.

Interview von Pia Ratzesberger und Felix Hütten

Deutschland ist arm, Deutschland ist reich. Deutschland spalte sich, sagen die einen. Deutschland gehe es doch immer besser, sagen die anderen. Das oberste Prozent der Superreichen besitzt heute ein Drittel des Vermögens im Land, gleichzeitig aber gelten mehr als 15 Prozent aller Deutschen als armutsgefährdet - wie passt das zusammen? Und was bedeuten diese abstrakten Zahlen eigentlich für den Alltag der meisten Deutschen, für den oberen und unteren Rand der Mittelschicht?

Wir haben Annette Ton und Lukas Reederer zum Interview eingeladen, die Informatikerin fährt mit dem eigenen Wagen vor, der OP-Pfleger steigt aus der S-Bahn. Beide heißen in Wirklichkeit anders, beide wollen nicht mit ihrem echten Namen über ihr Gehalt und ihren Job reden; aus Angst vor Neid, vor Repression, vor Stigmatisierung. Während Reederer, 26 Jahre, noch studieren will, weil er sich sonst nie ein Häuschen wird leisten können, sorgt sich Ton, 63 Jahre, trotz knapp sechsstelligen Jahresgehalts um ihre Rente. Wie unterschiedlich die beiden leben, zeigt sich nicht nur an ihrer Anreise - sondern zum Beispiel auch im Supermarkt.

SZ: Was glauben Sie, kostet ein Stück Butter?

Annette Ton: Für Butter, Sahne und Johannisbeeren kenne ich die Preise, für sonst nichts. Also Sahne unter einem Euro, Butter ungefähr 1,99 Euro.

Lukas Reederer: Nein, also bei Aldi kostet ein Stück Butter 49 oder 59 Cent.

Ton: So wenig, wirklich?

Wo gehen Sie denn einkaufen?

Ton: Ich gehe zum Rewe, die haben die besten Mangos. Aber eigentlich geht mein Mann einkaufen, immer samstags. Erst zum Viktualienmarkt, dann zum Bäcker Rischart, trinkt einen Cappuccino und isst ein Croissant. Danach weiter zum Bioladen.

Reederer: Wenn ich ehrlich bin, gehe ich meist zu Aldi. Ich vergleiche jetzt nicht Prospekte, aber ich wäge schon ab, wofür ich mein Geld ausgebe.

Wie viel verdienen Sie im Monat?

Reederer: Netto so etwa 2000 bis 2200 Euro.

Mit Zuschlägen für Wochenend- und Nachtschichten?

Reederer: Genau, ohne wären es so 1800 oder 1900 Euro. Wenn ich Rufbereitschaft habe, muss ich innerhalb von einer halben Stunde im Krankenhaus sein. Dieses Wochenende stand ich 13 Stunden in der Klinik.

Ton: Heftig.

Wie viel verdienen Sie, Frau Ton?

Ton: Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht so genau. Ich habe einen 80 Prozent-Vertrag, ich arbeite also 32 Stunden in der Woche.

Reederer: Wie schön.

Ton: Also mit hundert Prozent wären es etwa 110 000 Euro im Jahr.

Reederer: Ich habe ungefähr dreimal weniger, um die 36 000 Euro im Jahr. Obwohl ich mehr arbeite.

Finden Sie, dass Ihre Arbeit fair bezahlt ist, Herr Reederer?

Reederer: Soziale Berufe wie meiner sind definitiv unterbezahlt. Allerdings muss man natürlich auch belohnen, dass jemand studiert hat, wie Frau Ton.

Finden Sie denn, dass Sie fair bezahlt werden, Frau Ton? Im Vergleich zu Herrn Reederer?

Ton: Ich finde es okay, dass ich mehr verdiene, da ich meinen Job schon 40 Jahre mache.

Sind Sie reich?

Ton: Ich fühle mich gut situiert.

Was ist dann Reichtum?

Ton: Reich sind Freunde von mir. Einer hat ein Start-up verkauft und als Venture Capitalist gearbeitet, der hat zwei Landsitze und unglaublich viel Geld. Natürlich, ich könnte mir schon vorstellen, mal zwei Monate auf den Malediven Urlaub zu machen.

Wäre auch ohne Weiteres möglich, oder?

Ton: Ich könnte es mir leisten.

Und Sie, Herr Reederer, sind Sie arm oder reich?

Reederer: Weder noch. Ich würde sagen, ich verdiene für einen Lehrberuf ganz gut. Allerdings habe ich eine viel höhere Arbeitsbelastung als jemand, der zum Beispiel in einer Bank einen Kredit für einen Family-Van vergibt.

Sollte also Verantwortung das Kriterium für das Gehalt sein?

Reederer: Man sollte abwägen, ob mit Menschen oder mit Gütern gearbeitet wird. Ein Manager hat ja auch Verantwortung für eine Firma.

Übernehmen Sie Verantwortung für sich selbst, zum Beispiel beim Thema Sparen?

Reederer: Ich schau schon, dass ich um die 500 Euro Rücklagen schaffe, mindestens. Weil ich noch Medizin studieren will.

Ton: Ich spare auch, weil ich Angst habe, dass mir die Rente nicht reichen wird. Ich lege etwa doppelt so viel zurück wie Lukas. Wenn mein Mann oder ich später mal Betreuung brauchen, kostet das ja schnell 3000 bis 4000 Euro im Monat. Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.

Haben Sie Angst, später mal arm zu sein?

Ton: Ich finde, es gibt gar keine wirkliche Armut in Deutschland.

Warum?

Ton: Für mich ist auch ein Hartz-IV-Empfänger kein armer Mensch, denn er bekommt vom Staat so viel, dass er davon leben kann. In anderen Ländern geht das nicht. Mich stört an dieser Diskussion, wie Armut definiert wird. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt als arm. Das heißt, auch wenn unser Land reicher wird, gibt es immer noch genauso viele Arme wie vorher. Das ist doch bescheuert.

Aber wenn alle mehr haben, ist derjenige abgehängt, der sich kein Smartphone oder keinen Fernseher leisten kann.

Ton: Es muss in Deutschland niemand hungern, das ist doch eine große Errungenschaft. Klar, es gibt Obdachlose, aber da weiß man ja oft auch nicht, ob das Leute sind, die wirklich nicht genug haben. Unser soziales Netz ist so eng geknüpft, dass man eigentlich nicht durchfallen kann.

Wie sehen Sie das, Herr Reederer?

Reederer: Wenn ich durch bestimmte Stadtteile gehe, ist mir schon klar: Da leben die Armen, dort leben die Reichen. Auf der einen Seite die Hochhäuser, heruntergekommene Fassaden und auf der anderen weitläufige Grundstücke mit Villen.

Eine Begründung für die Schere zwischen arm und reich ist, dass die Vermögen weiter steigen, die Einkommen aber nicht.

Reederer: Stimmt. Wenn man sich die Immobilienpreise anschaut, sieht man, wie schwer es ist, sich etwas aufzubauen, wenn man nichts erbt. Haben Sie geerbt?

Ton: Kaum. Nur schöne Möbel.

Reederer: Okay. Hätten Sie zig Immobilien geerbt, fände ich das schon unfair. Ich werde auch nicht erben.

Die berühmte Schere zwischen arm und reich in Deutschland

Ist es nur das ungleich verteilte Erbe, das die Menschen auseinander treibt?

Ton: Das Krasseste sind die hohen Managergehälter, und bei den Frauengehältern tut sich ja seit Jahrzehnten nicht viel. Frauen werden noch immer schlechter bezahlt.

Reederer: Ich finde, man sollte wieder zur sozialen Marktwirtschaft zurückkommen. Mein Opa hatte ein eigenes Geschäft. Wenn es dem Geschäft gutging, hat er den Mitarbeitern mehr Gehalt gezahlt. Wenn es schlecht lief, haben alle verzichtet. Auch mein Opa.

Und heute?

Reederer: Heute nehmen die Leute oben immer mehr. Und wenn's dem Betrieb schlecht geht, verdienen die Chefs trotzdem gut.

Ton: Ich wünsche mir, dass den Leuten bewusster wird, wie gut es uns geht. Dass weniger Neid geäußert wird.

Sind Sie neidisch auf den jeweils anderen?

Reederer: (zu Annette Ton) Für mich hört sich Ihr Leben nach einem erfüllten Leben an. Wenn Sie Bock haben und ein Steak essen gehen möchten, dann gehen Sie eben ein Steak essen. Auch ein Steak ist eine Form von Freiheit.

Ton: Ich finde das auch wunderbar. Und mir ist bewusst, dass das nicht selbstverständlich ist. Um auf die Frage zu antworten: Vielleicht bin ich auf das Feedback von Patienten neidisch. Aber ich wehre mich auch gegen den Neidbegriff. Das unterstellt immer, etwas wäre unverdient. Aber was jemand macht, liegt ja in seiner eigenen Hand.

Wohlfahrtsverbände mahnen, dass Kinder aus armen Familien deutlich schlechtere Startchancen haben und daher der Armut nur schwer entkommen. Zum Beispiel beginnen Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern nur selten ein Studium.

Reederer: Ich musste mir alles hart erarbeiten und deshalb finde ich, man kann alles erreichen, wenn man nur will.

Ton: Ich habe eine Freundin, die erzählt von Kindern in ihrem Viertel, die auf die Frage "Was willst du denn mal werden?" antworten: "Ich werde Hartzer".

Das widerspricht Ihrer These, dass jeder sein Leben selbst in der Hand hat.

Ton: Ich glaube schon, dass es Familien gibt, die weniger Chancen haben. Da sollte der Staat was machen: Öffentliche Kitas bereitstellen und dafür sorgen, dass die Kinder mal was anderes sehen. Ein gewisser Zwang zur Bildung, wenn er nicht von den Eltern kommt.

Haben Ihre Eltern vorgegeben, welchen Schulabschluss Sie machen müssen?

Ton: Für sie war selbstverständlich, dass ich Abitur mache und studiere. Deshalb war das für mich als Kind auch selbstverständlich.

Haben Ihre Eltern Abitur?

Ton: Meine Mutter war Hausfrau und mein Vater hat eine Mittlere Reife gemacht.

Reederer: Ich glaube auch, die Eltern entscheiden viel. Manche Leute, die mit mir in der Grundschule waren, haben mit 18 Jahren ihr erstes Kind bekommen und leben vom Staat, weil es die Eltern auch so gemacht haben. Ich bin in einem nicht so guten Viertel aufgewachsen, die Wohngegend war scheiße. Die Kinder kamen mit löchrigen Pullovern in die Schule, und die Eltern haben sich am Nachmittag das Billigbier bei der Norma gekauft. Ich fand das ätzend und abschreckend.

Was hat das mit Ihnen gemacht?

Reederer: Ich wusste: Je höher mein Schulabschluss, desto besser. Und meine Mutter hat auch immer gesagt: Mittlere Reife brauchst du heutzutage mindestens. Sie selbst hat einen Volksschulabschluss gemacht, mehr nicht.

Wie war die finanzielle Situation Ihrer Eltern?

Reederer: Mein Vater war US-Soldat, keine Ahnung, was der jetzt macht. Meine Mutter ist mittlerweile Rentnerin, gelernt hat sie Friseurin, war zuletzt aber berufsunfähig.

Sie waren finanziell also immer auf sich allein gestellt?

Reederer: Ja - und das hat viel in meinem Leben beeinflusst. Ich wusste, dass ich nach dem Abitur gleich Geld verdienen muss. Ich hätte Medizin auch im Ausland studieren können, wie die anderen, bei denen die Noten nicht gereicht haben. Aber für mich wäre das Risiko zu groß gewesen in Ungarn für vier Semester 68.000 Euro zu bezahlen.

Waren Ihre Eltern wohlhabend, Frau Ton?

Ton: Mittelstand würde ich sagen. Mein Vater war Kürschner und Kaufmann, er hatte das Geschäft von seinem Vater übernommen. Als es in Kaufhäusern billige Pelze zu kaufen gab, musste er das Geschäft aufgeben und das Haus verkaufen. Er hat abends überlegt, wie er meine Mutter, meine Geschwister und mich, wir waren fünf Leute zu Hause, ernähren soll. Das hat mich geprägt, ich habe mir gesagt: So etwas will ich nie mehr erleben.

Also haben Sie die Berufswahl vom Gehalt abhängig gemacht?

Ton: Ich hätte damals gerne Musik studiert, aber habe mir ausgerechnet, dass dann vielleicht das Geld nicht reicht.

Deshalb wollen Sie noch Medizin studieren, Herr Reederer?

Reederer: Ich weiß, dass ich im Pflegebereich immer Arbeit finden werde, das gibt mir zwar Sicherheit. Aber ein Häuschen im Grünen wäre für mich später schwierig zu finanzieren.

Warum haben Sie sich für eine Ausbildung entschieden, von der Sie wussten, dass damit nicht viel Geld reinkommt?

Reederer: Das hört sich jetzt abgedroschen an, aber es gibt Sachen, die kann man mit Geld nicht bezahlen. Wenn ich einem Patienten den Po abwische und der bedankt sich danach bei mir, ist mir das viel mehr wert, als wenn ich hinten noch eine Null auf dem Gehaltszettel hätte.

Haben Sie also das Gefühl, selbst entscheiden zu können, ob Sie arm oder reich sind?

Reederer: Wenn meine Eltern ein Start-up für Millionen verkauft hätten, hätte ich es vielleicht einfacher gehabt. Aber vielleicht wäre ich dann auch nicht so ehrgeizig.

Ton: In der Vergangenheit hatte ich die Wahl, ja. Wenn ich mehr Geld verdienen hätte wollen, hätte ich ein paar Mal kündigen und neu verhandeln müssen. Habe ich aber nicht, weil ich etwa lieber ein Sabbatical machen wollte. Das ist für mich Luxus.

Gibt es etwas, das Sie sich wünschen, aber nie werden leisten können?

Ton: Ich hätte gerne einen Flügel. Das Geld ist nicht das Problem, es ist der Platz.

Reederer: Ich hätte gerne einen Oldtimer. In gutem Zustand ist der für mich unbezahlbar.

Unbezahlbar?

Reederer: Ein Chevy Pickup aus dem 50ern kostet so ab 50.000 Euro aufwärts.

Ton: Na ja, aber wenn Sie studieren, kann das schon klappen.

Reederer: Wenn ich studiere, nehme ich noch einen Studienkredit auf. Nach dem Studium bin ich Mitte 30, dann fang ich als Assistenzarzt an und verdiene erst einmal nur marginal mehr als jetzt.

Ton: Machen Sie das mit dem Studium, Sie werden das schaffen.

"Immer reicher, immer ärmer: Wie wächst Deutschland wieder zusammen?" Für diese Frage haben sich die SZ-Leser diesmal im Projekt Die Recherche entschieden. In einem Dossier, das Sie hier finden und als digitales Magazin hier und in Ihrer App zum Download, wollen wir sie konstruktiv beantworten - mit Beiträgen wie diesen:

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