Umdenken im Supermarkt:Quengel-Zonen sind out

Immer mehr Supermärkte verbannen Süßigkeiten aus der Kassenzone. Das kommt bei Eltern gut an, aber profitieren auch die Unternehmen davon? Offenbar. Denn wer mit dem Zeitgeist geht, bleibt wettbewerbsfähig.

Von Lea Hampel

Es ist eine Situation, die jeder kennt: im Hintergrund der Dudelsound aus den Lautsprechern des Supermarktes, vor dem Regal der Einkaufswagen. Der kleine Junge mit den großen Augen packt die Süßigkeiten in den Wagen, der Vater legt sie zurück. Nach mehreren Anläufen und einem genervten Blick des Papas kreischt das Kind: "Ich will das haben!" Es wirft sich auf den Boden, trommelt mit den Füßen. Die Werbung für Kondome - wer Geschrei verhindern wolle, solle verhüten, so die Botschaft - haben bis heute Hunderttausende auf Youtube angeschaut, vermutlich auch weil viele die Quengelsituation vom eigenen Wochenendeinkauf kannten. Doch womöglich taugt das große Theater im Supermarkt bald nicht mehr als Abschreckungsszenario. Denn: Der Discounter Lidl hat angekündigt, die sogenannten Quengelkassen zu reduzieren. In ausgewählten Märkten soll es künftig Kassen geben, an denen weder Schokoriegel noch Gummibärchen locken.

Dass die verführerischen Kleinigkeiten genau dort warten, hat seine Gründe. "Seit den Siebzigerjahren sind unsere Supermärkte so ausgefeilt aufgebaut, wie es nur möglich ist", sagt Alexander Hennig, Professor für Betriebswirtschaftslehre in Mannheim. Er befasst sich mit Einkaufspsychologie und weiß: Die Kunden sollen bei einem Einkauf so viel wie möglich konsumieren. Deshalb verläuft der Weg durch Supermärkte gegen den Uhrzeigersinn, Produkte für Kinder liegen im untersten Regal, besonders teure Produkte für Erwachsene auf Augenhöhe. In dieser Strategie spielt die Gegend um die Kasse eine zentrale Rolle, so Hennig: "Dort ist der Umsatz pro Quadratmeter am höchsten."

Denn: Kommt der Kunde dort an, ist er einerseits ohnehin schon im Kaufmodus. Andererseits kommt ihm das Anstehen lange vor. "Das menschliche Gehirn überschätzt Wartezeit, zwei Minuten fühlen sich wie vier an", sagt Hennig. Beginnt der Kunde, sich zu langweilen, greift der sogenannte Kontrasteffekt. Alles, was dann Ablenkung verspricht, findet man interessant, und sei es schnöder Kaugummi. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zu sogenannten Impulsartikeln greift, Produkten, über die man nicht groß nachdenkt, weil sie scheinbar nicht teuer sind, ist dann hoch - zumal bei Kindern.

Das große Quengeln, das dann folgt, will Lidl nun verkleinern. Bereits im vergangenen Jahr hat der Discounter in Großbritannien süßwarenfreie Kassen getestet. Nun wird es einigen Wochen in einem Dutzend deutscher Filialen ebenfalls ausprobiert. Die Idee ist nicht neu: Auch in anderen deutschen Supermärkten gibt es bereits solche Kassen, Kaufland bietet seit den Neunzigerjahren mindestens eine in jeder seiner 635 Filialen, auch Edeka wirbt vereinzelt damit.

Elternnerven schonen, Fettleibigkeit verhindern

Die Gründe für diese Schritte sind vielfältig. Zum einen geben sowohl Lidl als auch Kaufland an, damit gute Erfahrungen gemacht zu haben. Zum anderen lässt sich das Konzept gut vermarkten: Wer Elternnerven schont und Fettleibigkeit verhindern hilft, gilt als verantwortungsvoll. Erst im Januar hatte die Organisation Foodwatch Lidl aufgefordert, es den britischen Kollegen nachzutun.

Allerdings: "Für eine reine Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit ist das zu teuer", sagt Einkaufsexperte Hennig. Vielmehr, glaubt er, könne Lidl fast nicht anders, weil sich die Gesellschaft verändere. "Die Akzeptanz von Süßwaren hat abgenommen." Auf seine Ernährung zu achten entspricht dem Geist der Zeit, und auch Lidl bezeichnet die süßwarenfreien Kassen als eines von "verschiedenen Projekten der Gesundheitsförderung". Die Kunden kauften bewusster, wenn auch nicht nur gesünder, glaubt auch Robert Kecskes von der Gesellschaft für Konsumforschung. "Sie gleichen vermeintlich ungesunde Produkte wie Schokolade mit scheinbar gesunden wie vorgeschnittenem Obst aus", so Kecskes. Abgepackte Salate oder Fruchtgetränke stehen deshalb mittlerweile oft in Greifnähe der Kassenschlange.

Der Umbau im Supermarkt steht für sozialen Wandel

Darüber hinaus steht die Neustrukturierung im Supermarkt für einen sozialen Wandel, und auch Lidl verweist auf die "gesellschaftlichen Rahmenbedingungen". Denn je mehr Menschen berufstätig sind, desto weniger kochen selbst. Auch das macht Convenience-Produkte wie fertige Salate attraktiv. Und weil die meisten Menschen weniger Zeit haben, ist der Einkauf ein Stressfaktor. Wenn dann noch Kinder quengeln, wird der Samstag zum Horror - mit direkten Folgen für die Kauflust. "Es geht für Unternehmen wie Lidl darum, die Einkaufsatmosphäre zu verbessern", sagt Konsumforscher Kecskes.

Die Kassen ohne Schokolade sind deshalb nur eine von vielen Maßnahmen, die das Einkaufen familienfreundlicher machen sollen. Kaufland beispielsweise hat auch Mutter-Kind-Parkplätze, und in anderen Läden gibt es Einkaufswagen, die mehr mit einem Bobbycar gemeinsam haben als mit einer Transportmöglichkeit. Ob sich das für die Betreiber lohnt, bezweifelt Kecskes. "Es ist ja schön, wenn Menschen öfter kommen und länger bleiben, aber der Erfolg misst sich in der Umsatzsteigerung." Auch Lidl kann und will sich dazu nicht äußern. Dass auch in Deutschland bald mehr süßwarenfreie Kassen existieren, ist trotzdem wahrscheinlich.

In Großbritannien wurden "aufgrund der hohen Kundenakzeptanz im Januar 2014 alle Kassen landesweit umgestellt", wie Lidl meldet. Sollte es auch in Deutschland so weit kommen, würde das nicht nur beim Discounter die Aussicht über dem Fließband an der Kasse ändern. "Das setzt natürlich die Konkurrenz unter Druck, gerade im Handel, wo man sehr genau auf die Konkurrenten schaut", sagt Handelsexperte Hennig.

Ob es mit weniger Schokolade auch weniger Streit an der Kasse gibt, ist fraglich. Denn klar ist: "Um Verführung geht es an der Kasse in jedem Fall, Impulsprodukte ersetzen andere Impulsprodukte", sagt Hennig. Bei Kaufland beispielsweise stehen dort nun Batterien, Ladekarten für Telefone oder Drogerieprodukte. Und bei Lidl in Großbritannien? Nüsschen und Obst, vorerst. Aber vielleicht wäre es schon ein Fortschritt, plötzlich Kinder zu haben, die loskreischen: "Ich will aber diese Äpfel!"

Wie man Geschrei an der Kasse verhindert

Der Einkauf mit Kindern ist nicht leicht. Längst gibt es von Miniatur-Einkaufswagen bis zu Packungen mit Comicfiguren alles, was Kinder zum Konsum verführt. Das große "Ich will aber!" ist fast vorprogrammiert und begründet sich auch darin, dass die Kinder oft selbst nicht auseinanderhalten können, was sie brauchen, wollen und sich leisten können.

Experten empfehlen daher, mit dem Kind vorab eine Vereinbarung zu treffen, dass es sich einen Gegenstand aussuchen darf. "Das ist besser, als Verhandlungen im Supermarkt aufzunehmen", sagt der psychologische Berater Rolf Neumayr aus München. An die getroffene Vereinbarung müssten sich allerdings beide Seiten halten: So wenig wie Geschrei erlaubt ist, gelten elterliche Bedenken gegenüber apfelgrünen Gummischlangen. "Sonst geht der Effekt der Eigenständigkeit verloren", so Neumayr.

Gerade wenn die Kinder schon im Grundschulalter sind und zählen können, ist es auch sinnvoll, ihnen das Geld vorab zu geben. Damit diese angesichts meterlanger Regale trotzdem nicht überfordert sind, können die Eltern helfen. "Es ist sinnvoll, sich runterzuknien und mit dem Kind das Angebot im Regal zu sichten", sagt Neumayr. Gibt es trotzdem Theater, rät er zu Konsequenz: "Man sollte sich auf keinen Fall erpressen lassen." Sonst würden die Kinder lernen, dass sie mit Geschrei etwas erreichen - der Stress beim nächsten Einkauf sei garantiert. Er rät dazu, notfalls den Supermarkt unverrichteter Dinge zu verlassen.

Ein weiteres extremes Mittel weiß er noch, aber das mag nicht jedermanns Sache sein. "Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder nicht wieder mit zum Einkaufen kämen, wenn die Mutter sich auf den Boden wirft und schreit", sagt der psychologische Berater Neumayr und lacht.

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