Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Politik kontrolliert Gaskonzern

Das ukrainische Staatsunternehmenonzern Naftogaz galt als Vorzeigeprojekt. Doch nun ist von "sowjetartigen Methoden" die Rede.

Von Florian Hassel, Warschau

Die erste Alarmglocke für Naftogaz läutete am 6. Oktober 2020. Da erklärte der staatliche Rechnungsprüfungshof der Ukraine unversehens, der gleichfalls staatliche Erdgaskonzern sei des "Hochverrats" schuldig, weil er der Regierung ihr angeblich zustehende 2,8 Milliarden Dollar Steuern nicht gezahlt habe. Die ohne Belege erhobene Beschuldigung der Rechnungsprüfer, die wie andere Kiewer Institutionen oft eher politische Vorgaben ausführen als ihren eigentlichen Auftrag, ließ Beobachter vermuten, dass die Regierung von Präsident Wolodimir Selenskij gern die uneingeschränkte Kontrolle der Politik über die größte Geldquelle des Landes wiederherstellen wolle.

Naftogaz war bis vor Kurzem ein - seltenes - Aushängeschild für wirtschaftliche Reformen in der Ukraine. Bis zur Maidan-Revolution 2014 wurde der Konzern von Politikern, russischen und ukrainischen Oligarchen ausgeplündert, sodass die Steuerzahler die Firma jährlich mit Milliarden subventionierten - und dem langjährigen Naftogaz-Vorstandschef Andrij Koboljew zufolge noch vor fünf Jahren ein Loch von 6,5 Milliarden Dollar in der Kasse klaffte.

Internationale Geldgeber, allen voran der Internationale Währungsfonds, die USA und die EU, sahen Naftogaz als Test für Kiews Reformwillen. Und so wurde bei Naftogaz in Vorbereitung einer späteren Privatisierung ein modernes Management und ein Aufsichtsrat mit angesehenen westlichen Fachleuten eingesetzt, etliche Korruptionsschemata geschlossen und die Firma von westlichen Rechnungsprüfern durchleuchtet. Und siehe da: Naftogaz wurde zu einem der größten Steuer- und Dividendenzahler. Heute sorgt die Firma für 13 Prozent aller Staatseinkünfte.

2020 aber mehrten sich mit zweifelhaften Lieferverträgen und Personalentscheidungen die Zeichen dafür, dass Präsident Wolodimir Selenskij und seine Regierung ihre Kontrolle gern wieder ausbauen wollten. Im Oktober trat Amos Hochstein, ein angesehener Energiemanager und ehemaliger US-Diplomat, aus Protest als Aufsichtsrat zurück und warnte vor "wachsender Sabotage" durch Oligarchen und Politik: "Die alte Taktik ist zurück, Staatsanwälte und Rechnungsprüfer zur Einschüchterung und Rache einzusetzen".

Oligarchen und Staatsfirmen zahlen ihre Lieferungen zu spät

Ende April dann gab Naftogaz einen Buchverlust von 684 Millionen Dollar für 2020 bekannt, der erste Verlust seit fünf Jahren. Das lag vor allem an Zahlungsrückstände von 3,6 Milliarden Dollar durch einflussreiche Oligarchen, regionale Heizkraftwerke und Staatsfirmen, die Naftogaz jahrelang trotz ihrer Schulden mit Gas - oft unter dem Marktpreis - beliefern musste, weil so von Kiew vorgeschrieben.

Naftogaz zahlte 2020 zwar fünf Milliarden Dollar Steuern und Abgaben, doch nach der Verlustmeldung fiel eine 360 Millionen Dollar hohe Dividende aus, mit der der Finanzminister kalkuliert hatte. Die Regierung nutzte die Verlustmeldung, Naftogaz-Chef Koboljew schon tags darauf trotz eines noch vier Jahre laufenden Vertrages zu feuern. Dazu allerdings fehlte der Regierung das Recht.

Das Feuern des Naftogaz-Chefs ist Vorrecht des Aufsichtsrates. Um diesen auszuschalten, erklärte ihn Ministerpräsident Dennis Schmigal zwei Tage lang für suspendiert und Koboljew in einer Kabinettssitzung Ende April für gefeuert. Der amtierende Energieminister Jurij Witrenko, früher selbst Naftogaz-Manager, wurde neuer Naftogaz-Chef. Diese Ernennung ist offenbar ebenfalls problematisch. Denn Artikel 26 des Anti-Korruptions-Gesetzes verbietet Amtsträgern noch ein Jahr nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt, einen Posten in einer Firma oder Behörde zu übernehmen, die sie qua Amt zuvor beaufsichtigt haben. Dies war bei Witrenko der Fall.

Die Probleme bei Naftogaz könnten dem Kreml in die Hände spielen

Nach Koboljewss Rauswurf traten westliche Aufsichtsratsmitglieder zurück und protestierten in einem offenen Brief gegen die "sowjetartigen Methoden", die Grundlagen von Unternehmensführung "in beispielloser Weise gebrochen haben". Die Botschafter der G-7-Staaten zeigten sich ebenso indigniert wie EU, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie die Weltbank. Der IWF, der bereits 2020 Zahlungen im Rahmen eines Milliardenkredites für die klamme Ukraine wegen fehlender Reformen auf Eis legte, rief seinen für Unternehmensreform zuständigen Ökonomen aus Kiew zurück. Und der weitere mögliche Schaden für die Ukraine ist enorm.

Dabei ist nur eine Sorge, dass die Regierung an über zwei Milliarden Dollar herankommen will, die auf Naftogaz-Geschäftskonto für Rückstellungen oder kommenden Gaseinkauf lagern. Der mühsam aufgebaute gute Ruf von Naftogaz könnte nach dem Vorgehen mit der Brechstange dahin sein - und auch dem Kreml in die Hände spielen, analysierte Energieexperte Alan Riley im Ukraine-Dienst des Altantic Council: Der Kreml begründete den Bau der umstrittenen Ostseepipeline Nord Stream 2 ja auch mit angeblicher Unzuverlässigkeit der Ukraine im Gasgeschäft. Nach Koboljews Rauswurf musste Naftogaz die Ausgabe einer Anleihe absagen. Auch andere Übereinkünfte sind nun fraglich: Entscheidungen des neuen Direktors Witrenko könnten sämtlich für ungültig erklärt werden, sollte ein Gericht die Rechtswidrigkeit seiner Einsetzung bestätigen.

Beobachter verweisen vor allem darauf, dass mit das Vorgehen Kiew die unselige Tradition kompletter Kontrolle auch unter Präsident Selenskij fortsetze. Schon im Sommer 2020 hatte Selenskij sich wieder die Kontrolle über die zuvor leidlich unabhängige Nationalbank NBU gesichert. Schon im April 2017 warf NBU-Chefin Waleria Gontarewa, die konsequent gegen kriminelle Machenschaften einflussreicher Oligarchen vorgegangen war, nach massiven Druck hin. Ihr Nachfolger Jakiw Smolij gab Anfang Juli 2020 auf, ebenfalls nach massivem Druck. Nachfolger Kirilo Schewtschenko gilt als politisch abhängig und zieht in der bisher kollegial organisierten Zentralbank immer mehr Vollmachten an sich. Mehrere Vize-Zentralbankchefs und Abteilungsleiter wurden gefeuert oder gingen selbst.

Die Angriffe sind damit nicht beendet: Vize-Nationalbankchefin Katerina Roschkowa wurde die Bankenaufsicht entzogen. Der Geheimdienst SBU und das Staatsbüro für Ermittlungen - die beide als Instrument des Präsidialapparates gelten - ermitteln wegen angeblicher Unterschlagung und Amtsmissbrauch gegen Roschkowa und andere. Ihr angebliches Vergehen: Sie heuerten 2016 die Finanzdetektei Kroll und internationale Rechtsanwaltsfirmen an, um ein gut fünf Milliarden Dollar tiefes Loch bei der bis dahin den Oligarchen Ihor Kolomoiskij und Gennadij Bogoljubow gehörenden, dann verstaatlichten Privat Bank zu untersuchen. Die Finanzdetektive fanden zahlreiche Belege, dass die Oligarchen die Bank ausgeplündert hatten; diese bestreiten die Vorwürfe. Statt gegen den eng mit Präsident Selenskij verbundenen Kolomoiskij wird gegen Roschkowa und Kollegen ermittelt: Die Honorare für die erfolgreichen Finanzdetektive seien überhöht gewesen, das Teilen des Bankgeheimnisses mit ausländischen Spezialisten Verrat.

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