Deutschlands Verwundbarkeit entscheidet sich in den nächsten Wochen am Wetterbericht. Bleibt der Winter mild, könnte die Sache glimpflich ausgehen. Gibt es dagegen noch einmal eine Kälteperiode, wird es richtig eng. Dann könnte der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auch in hiesigen Wohnzimmern landen.
Ein erstes Anzeichen ist der Füllstand der deutschen Gasspeicher. In den letzten fünf Jahren lag dieser zu Beginn des Jahres im Schnitt bei 75 Prozent. In diesem Jahr, so heißt es bei der Speicher-Initiative INES, liegt der Wert bei kaum mehr 50 Prozent. Und dabei halfen noch die milden Tage rund um den Jahreswechsel. Geht es im aktuellen Tempo weiter, dürften Anfang Februar nur noch an die 37 Prozent übrig sein, ein bedrohlicher Wert. Für die Absicherung einer siebentägigen Kälteperiode hatte ein Gutachten des Bundeswirtschaftsministeriums vor einigen Jahren einmal 40 Prozent Speicherfüllung veranschlagt - zum Stichtag 1. Februar. Und so eine Kältephase kann im Februar durchaus mal vorkommen. "Derartige Tiefststände haben wir in der Vergangenheit nie erlebt", sagt INES-Geschäftsführer Sebastian Bleschke. Und rät: "Wir sollten mit den knappen Reserven sorgsam umgehen."
So ist die Lage zu Beginn eines Konflikts, der Deutschlands Gasversorgung von Osten unterbrechen könnte. Rund 40 Prozent des Gases in Deutschland kommen aus Russland. Ganz genau lässt sich das nicht sagen, denn Moleküle tragen keine Herkunftsbezeichnung. Und viel von dem Erdgas, das in Deutschland anlandet, fließt letztlich weiter in andere Länder Europas - was aber wiederum nur heißt: Wenn aus dem russischen Truppenaufmarsch Ernst wird, hat nicht alleine Deutschland ein Problem.
Der Preisanstieg hat mehrere Ursachen
Was das bedeutet, spürt die deutsche Wirtschaft schon seit Monaten durch steigende Erdgaspreise. So verzeichnete das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle allein von September auf Oktober einen Anstieg der Importpreise um 60 Prozent. Im Vergleich zum - allerdings auch von der Corona-Krise geprägten - Vorjahresmonat lag der Anstieg bei sagenhaften 216 Prozent. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Mit der nächsten Gasrechnung wird das Problem auch bei Millionen Verbrauchern ankommen. Und die Strompreise steigen ebenfalls mit dem teuren Erdgas.
Der Anstieg der Preise hatte ursprünglich mehr als nur eine Ursache. Der starke Einbruch der Weltwirtschaft hatte zunächst die Gasnachfrage massiv gedrückt, damit fielen die Preise. Doch die rasche Erholung in Asien führte auch zu einem schnellen Preisanstieg, flankiert von Sondereffekten wie einer Trockenheit in Südamerika - Wasserkraft wurde knapp, Gaskraftwerke sprangen ein. Und rechtzeitig zum Winter wollten die Europäer ihre Vorräte wieder füllen. So nahm das Schicksal seinen Lauf.
Inzwischen vermutet aber auch die EU-Kommission, dass der russische Gasmonopolist Gazprom seine Finger im Spiel hat. Es stimme nachdenklich, dass ein Unternehmen trotz einer wachsenden Nachfrage sein Angebot verknappe, erklärte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager am Donnerstag in Brüssel. "Das ist ein sehr seltenes Verhalten am Markt." Die Frage der Energiepreise habe hohe Priorität.
Der Konflikt mit der Ukraine bedroht auch den Gasfluss aus Russland
Was aber, wenn der Konflikt um die Ostukraine eskaliert? Gleich zweifach würde das den Gasfluss aus Russland bedrohen. Zum einen hat der Westen Sanktionen angedroht. Im Falle der eben erst fertig gewordenen Pipeline Nord Stream 2 wäre das zu verschmerzen - sie ist zwar seit Weihnachten mit Gas befüllt, hat aber noch keinen Kubikmeter geliefert. Anders sähe das mit der Schwesterröhre Nord Stream 1 aus. Derzeit liefert sie täglich 1,6 Milliarden Kilowattstunden Erdgas, was in etwa dem üblichen Niveau entspricht. Sanktionen, die nicht abermals eine Ausnahme für Energielieferungen machen, könnten diesen Zustrom beenden. Hinzu kommt das Pipeline-System durch die Ukraine. Der dortige Gasnetz-Betreiber Naftogaz geht jetzt schon davon aus, dass seine Leitungen im Falle eines Krieges gezielt angegriffen würden. Deutschland und Europa stünden, im schlimmsten Fall, ohne Gas aus dem Osten da.
Antworten gibt es. Am internationalen Markt lässt sich Gas mit Sonderausschreibungen beschaffen, just am Freitag startete der Trading Hub Europe eine. Er ist für das deutsche Gasmarktgebiet zuständig. Ziel sei es, angesichts der wenig gefüllten Speicher für Februar und die erste Märzhälfte Gasmengen zu sichern, sagt eine Sprecherin. Schließlich gibt es auch noch eine Reihe anderer Lieferanten: Norwegen etwa, zweitgrößter Lieferant, kann ebenfalls über Pipelines liefern. Und dann gibt es noch den Markt für Flüssiggas, den bisher Katar und Australien dominieren, auf dem aber die USA sich anschicken, neue Nummer eins zu werden. "Mitten im Winter in einer angespannten Marktlage eine kleine Gasreserve für das Ende des Winters aufzubauen ist aber natürlich keine optimale Wintervorsorge", sagt INES-Chef Bleschke.
So wird es vielleicht nicht zwingend ein zittriger Winter. Aber ganz gewiss ein sehr teurer. Und erst recht, wenn Russland ausfällt.