Es ist erst ein halbes Jahr her, da war der russische Gaskonzern Gazprom für Linde noch ein "Kunde von sehr hoher Qualität". Sanjiv Lamba, inzwischen Vorstandsvorsitzender des Dax-Konzerns, rühmte (damals noch als einfaches Vorstandsmitglied) die guten Geschäftsbeziehungen zu den Russen. Der Anlass: Der deutsch-amerikanische Gase-Lieferant hatte im November 2021 von Gazprom zwei Prestige-Aufträge bekommen - im Wert von rund sechs Milliarden Dollar. Das ist auch für den Weltkonzern Linde ein beträchtliches Volumen. "Wir sind sehr glücklich mit diesen Projekten", sagte Lamba damals.
Inzwischen dürfte Linde mit seinen Beziehungen zu Gazprom nicht mehr so glücklich sein. Der Konzern ist in relativ kurzer Zeit vom Hoffnungs- zum Problemkunden geworden. Linde hatte im vergangenen Jahr den Zuschlag für die Planung und Errichtung einer LNG-Flüssiggasanlage und einer Gasverarbeitungsanlage bei Ust-Luga bekommen, das ist nicht weit von der russischen Grenze zu Estland gelegen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem brutalen Krieg steht der Staatskonzern Gazprom besonders in der Kritik, seine Tochtergesellschaft in Deutschland wird bereits von der Bundesnetzagentur als Treuhänderin verwaltet, als Sponsor von Schalke 04 ist Gazprom schon seit Wochen raus. Auch sonst will mit Gazprom kaum jemand mehr etwas zu tun haben.
Der Verkauf von industriellen Anlagen in Russland wird geprüft
Linde verurteile den Überfall auf die Ukraine und unterstütze die Mitarbeiter und ihre Familien im Land, teilte das Unternehmen mit. Kurz nach Kriegsbeginn hatte Linde bereits angekündigt, das Neugeschäft und die Akquise von Aufträge in Russland einzustellen. Nun fahre man auch die Projektentwicklung weiter zurück und prüfe sogar den Verkauf von industriellen Anlagen im Land, hieß es zuletzt. Fortsetzen werde man aber die Versorgung wichtiger Kunden mit lebensrettenden medizinischen und anderen Gasen. Linde beliefert unter anderem auch Krankenhäuser, sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Der Konzern halte sich vollständig an alle bestehenden und zukünftigen Sanktionen gegenüber Russland, wird betont. Gazprom wird in der Stellungnahme nicht explizit genannt.
Der Großauftrag mit Gazprom, der über mehrere Jahre laufen soll, wurde bislang Zug um Zug abgewickelt, die Russen zahlen für Teilabschnitte, Linde plant, liefert und baut. In diesem Rahmen wird das Milliardengeschäft offenbar derzeit weiter abgearbeitet - bis auf Weiteres. Linde muss sich derzeit dem Vernehmen nach an die bestehenden Abmachungen halten und will nicht vertragsbrüchig werden, das könnte durchaus hohe Strafzahlungen nach sich ziehen. Zudem ist der Konzern aufgrund früherer Aufträge an einer Anlage im Rahmen des Pipelineprojekts "Power of Siberia" beteiligt, die Erdgasfelder in Ostsibirien mit Nordostchina verbinden soll.
Kein Einzelfall: Siemens zum Beispiel hat auch schnell nach Kriegsbeginn Anfang März verkündet, dass das Neugeschäft in Russland eingestellt werde und es auch keine internationalen Lieferungen aus dem Land mehr geben werde. Wartung und Service in Russland gehen aber zunächst weiter, unter anderem hat der Münchner Konzern Hochgeschwindigkeitszüge nach Russland geliefert. Siemens ist immerhin bereits seit 1851 in Russland tätig.
Wenn weitere Sanktionen auch das Abarbeiten des Gazprom-Auftrags unmöglich machen sollten, muss das Projekt von Linde auf Eis gelegt werden, was nicht ausgeschlossen wird. Der Verlust der Milliarden-Offerte würde Linde durchaus treffen. Dass der Auftrag vollständig zu Ende gebracht werden kann, gilt inzwischen als eher unwahrscheinlich. Ende April veröffentlicht Linde Quartalsergebnisse, da könnte es weitere Informationen geben.
Der internationale Druck wächst
Der internationale Druck auf die Konzerne, Russland ganz den Rücken zu kehren, wächst jedenfalls immer weiter, nicht nur auf europäische, sondern auch auf amerikanische. McDonald's etwa oder Coca-Cola haben das Land längst verlassen. Linde hat seine operative Hauptverwaltung in den USA. 2019 hatte das Münchner Traditionsunternehmen mit dem kleineren amerikanischen Wettbewerber Praxair fusioniert - auf Augenhöhe, wie es damals hieß. Der Name ist zwar geblieben, die Musik spielt seitdem aber vor allem in den USA. Auch wenn Linde weiterhin Mitglied im Deutschen Aktienindex Dax ist und dort mit einer Börsenkapitalisierung von fast 150 Milliarden Euro das wertvollste Unternehmen ist - noch vor SAP. Der Software-Konzern hat sich nach anfänglichem Zögern nun vollständig aus Russland zurückgezogen.
Linde ist Weltmarktführer und liefert Industriegase an die Auto-, Öl-, Chemieindustrie genauso wie an Lebensmittelhersteller oder für das Gesundheitswesen. Gleichzeitig gibt es aber eine kleinere Einheit, die unter anderem in Höllriegelskreuth im Süden von München sitzt, die industrielle Großanlagen plant und errichtet. Nach der Fusion war zunächst darüber spekuliert worden, dass dieser Bereich abgestoßen werden soll, weil die Margen geringer sind als im reinen Gasegeschäft. Doch inzwischen entwickelt sich der Anlagenbau gut, wie auch der Großauftrag zeigte. So kann Linde unter anderem Flüssiggasanlagen planen und bauen. Sogenannte LNG-Terminals sind derzeit überall sehr gefragt, weil Europa sich vom Pipeline-Gas aus Russland unabhängig machen will. Auch auf Projekte mit Wasserstofferzeugung und -versorgung ist Linde spezialisiert.
Gazprom ist die erste Bewährungsprobe für Sanjiv Lamba, der langjährige Linde-Vorstand ist erst seit März dieses Jahres Konzernchef. Lambas Vorgänger Steve Angels wechselte an die Spitze des Verwaltungsrats. Wolfgang Reitzle, der diesen Job seit der Fusion innehatte, hat sich zurückgezogen. Linde kam zuletzt auf rund 30 Milliarden Euro Jahresumsatz.