McKinsey-Chefdenker Sven Smit:Die Welt vor ihrer größten Herausforderung

McKinsey-Chefdenker Sven Smit: Früher präsentierte sich Russland im Russischen Haus in Davos. In diesem Jahr wird dort eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine gezeigt.

Früher präsentierte sich Russland im Russischen Haus in Davos. In diesem Jahr wird dort eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine gezeigt.

(Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Trägt das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, noch? Sven Smit, einer der einflussreichsten Unternehmensberater, analysiert die gegenwärtige Krise. Für Europa sieht er auch Chancen.

Von Marc Beise

Die Zahl beeindruckt: Mit 380 Konzernlenkern aus aller Welt hat Sven Smit in den vergangenen Monaten gesprochen, und die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen wird der Niederländer von heute an beim Weltwirtschaftsforum in Davos in vielen weiteren Runden diskutieren. Der Leiter des McKinsey Global Institute, der Denkfabrik der bekanntesten Unternehmensberatung der Welt, ist sich sicher: "Davos wird dieses Jahr anders - weil die Welt anders ist."

Natürlich werde es viel Solidarität mit der Ukraine geben, aber die Politiker und Wirtschaftsführer müssten auch den Kurs der Weltwirtschaft neu vermessen, sagte Smit im SZ-Gespräch. In den Unternehmen wachse die Unsicherheit darüber, was in diesem Jahr noch auf sie zukomme. Immer mehr Ökonomen schlagen Alarm, fürchten eine Krise, die alles bisher Bekannte übertrifft, sprechen gar - in Anlehnung an einen von Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen mit George Clooney verfilmten Besteller - vom "Perfect Storm", also von maximalem Unheil, bei dem alle Probleme auf einmal zusammenkommen. Konkret: Europa ist unter Druck wegen des Krieges in der Ukraine, die USA kämpfen gegen eine hohe Inflation, das Wachstum in China stockt wegen der Null-Covid-Strategie, die Gefahr einer weltweiten Rezession steigt. "Aber die Frage für Davos ist noch grundsätzlicher", sagt Smit. Sie lautet: Trägt das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, noch?

"Wir haben uns aus der alten Welt verabschiedet, sind aber noch längst nicht fit für die neue Welt."

Kapitalismus, Marktwirtschaft, Globalisierung, internationale Vernetzung, die Suche nach dem günstigsten Preis: Das sind bisher Eckpfeiler des Systems, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg bewährt, auch armen Staaten mehr Wohlstand beschert und selbst die großen Krisen der vergangenen Jahrzehnte abgefedert hat. Smit hat sie alle erlebt und analysiert. Das, was jetzt kommt, ist für ihn von einem anderen Kaliber: "Finanzkrise, Euro-Krise, selbst Covid: Das alles hatte ein Muster: Immer brach die Nachfrage ein - nach Krediten, verschachtelten Finanzpapieren, nach Staatsanleihen, nach Konsumgütern. Dieses Mal erleben wir einen Angebotsschock." Heißt: Es gibt zu wenig Öl, zu wenig Gas, keine Nahrung. Das ist neu, und die Welt muss erst lernen, wie man damit umgeht.

Die früheren Krisen lösten sich im Kopf, sagt Smit: "Die Menschen sahen die Krise und beschlossen, nicht mehr zu kaufen. Irgendwann änderten sie ihr Verhalten und kauften wieder, oder die Restriktionen fielen weg, wie in der Pandemie. Diesmal sind die Folgen der Krise nicht nur im Kopf, sie sind real", sagt Smit - und deshalb entsprechend schwerer zu beeinflussen. Und alles hänge an der Energie. "Energy makes the world go round", sagt Smit. "Wenn der Diesel ausbleibt, steht Deutschland kurzfristig vor erheblichen Herausforderungen."

Vor 50 Jahren produzierte Europa fast die gesamte Öl- und Gasnachfrage selbst, heute hängt es an Moskaus Tropf - weil es billiger ist so. Bisher. Und die exzessive Nutzung von fossilen Energien hat die Umwelt an den Rand einer Katastrophe gebracht. Das Umsteuern ist ein langer Prozess, der aufwendiger und teurer wird, als viele glauben, sagt Smit: "Wir haben uns aus der alten Welt verabschiedet, sind aber noch längst nicht fit für die neue Welt." Das ist die Ausgangslage - und nun kommt der Putin-Krieg mit seinen Folgen obendrauf.

"Wenn die Chemiekonzerne zu wenig Strom haben, dann gibt es kein Plastik mehr, keine Farbe, keine Vorprodukte, nichts."

Smit schlägt sich auf die Seite derjenigen, die vor dem Risiko warnen, wenn die Energie ausbleibt. Auch McKinsey habe makroökonomische Berechnungen erstellt, mit denen einige Forscher derzeit Furore machen, "und klar kommt man dann auf zwei oder vier Prozent Einbruch der Wirtschaftsleistung und kann das für hinnehmbar halten. Aber was diese Forscher übersehen: Es wird Probleme an einigen zentralen Positionen geben, und das kann das ganze Wirtschaftsleben lahmlegen." Dieser "Mikroblick" zeige, wie verwundbar das System ist: "Wenn die Chemiekonzerne zu wenig Strom haben, dann gibt es kein Plastik mehr, keine Farbe, keine Vorprodukte, nichts. Mit massiven Folgeeffekten für die Wirtschaft."

Im Zusammenhang mit der Pandemie sei häufig gesagt worden, dass die Lieferketten gebrochen seien, sagt Smit: "Aber das stimmt nicht. Als das Virus unter Kontrolle war, liefen die Lieferungen sofort wieder an. Jetzt aber droht wirklich ein Bruch. Ohne Energie werden überall Teile für die Produktion fehlen, und sie werden auch so schnell nicht nachkommen."

Immerhin einen Vorteil gewinnt er der Situation ab. Europa habe erkannt, dass es handeln müsse - und zusammenstehen. Die Zeit, da man aus Kostengrünen alle Risiken ausgeblendet und sich an einzelne Lieferanten gebunden habe, sei vermutlich vorbei. "Die Globalisierung ist nicht zu Ende, darum geht es auch gar nicht, aber sie muss von Sektor zu Sektor unterschiedlich gestaltet werden." Je sensibler ein Bereich sei, je mehr er mit Grundbedürfnissen und Sicherheit zu tun habe, desto mehr müssten die Staaten in Zukunft Abhängigkeiten verringern. Zugleich müsse Europa sich zusammenschließen. "Ein Beispiel aus der Marine: Europa hat 25 unterschiedliche Typen von Fregatten. Die USA haben zwei." Aber es gehe nicht nur ums Militär: Auch in zentralen Industrien wie Auto, Chemie und IT müsse Europa mehr vereinheitlichen, und Unternehmen müssten viel enger zusammenarbeiten als früher: "Das ist ein Thema für Davos."

Erst recht gelte das für den Tech-Bereich. Europa sei in der Digitalisierung weit zurückgefallen, die großen Spieler sitzen bekanntlich in den USA und in China. "Aber die Digitalisierung geht weiter, und mit jedem Innovationsschub hat Europa eine neue Chance, vorn dabei zu sein. Wenn es das will." Für Smit ist das Problem nicht das Fehlen von Gründergeist. "Wer sagt, Europa habe keine den USA ebenbürtige Start-up-Szene, der redet Unsinn. Die Ideen sind da." Nur gingen die erfolgreichen Firmen meist rasch in die USA, weil dort mehr Geld zu holen sei, um wirklich groß zu werden. "Europa muss seine Erfinder hier halten. Auch dafür müssen Regierungen und Wirtschaft zusammenarbeiten."

Dafür sieht Smit eine wesentlich größere Bereitschaft als früher, gespeist eben nicht zuletzt durch die traumatische Erfahrung des Krieges in Europa. Es lohnt sich also zu reden - in Davos. In Berlin. Überall.

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