Überstunden:Der Staat muss Beschäftigte besser schützen

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Benjamin Emonts (Foto: Bernd Schifferdecker)

Viele Angestellte in Deutschland fühlen sich durch ihre Arbeit überlastet. Doch die Chance, das Problem anzugehen, lässt die Regierung bislang verstreichen.

Kommentar von Benjamin Emonts

Vor knapp zweieinhalb Jahren hat der Europäische Gerichtshof die Gewerkschaften hierzulande regelrecht verzückt. Sein viel beachtetes Grundsatzurteil vom 14. Mai 2019 las sich wie ein großes Versprechen: Alle EU-Mitgliedsstaaten sollten Arbeitgeber künftig verpflichten, nicht mehr nur Überstunden, sondern die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten genau zu erfassen. Die große Hoffnung lautete entsprechend, dass Arbeitnehmer durch das Urteil vor Ausbeutung und Überlastung geschützt würden. So zumindest die Theorie.

In der Praxis ist das Vorhaben in Deutschland bislang kläglich gescheitert, abgeprallt an einer renitenten Bundesregierung. Sie hat das Urteil des EuGH bisher gekonnt übergangen, obwohl ihr ein eigens bestelltes Rechtsgutachten Handlungsbedarf attestiert hat. Das Arbeitsklima ist entsprechend nicht freundlicher geworden, wie vielerorts zu beobachten ist. In Agenturen, Architekturbüros und Unternehmensberatungen, um ein paar Beispiele zu nennen, sieht man auch nach 20 Uhr das Licht noch brennen und Mitarbeiter auf ihre Bildschirme starren. Oder in Krankenhäusern, Gaststätten und Hotels beklagt das ohnehin knappe Personal, dürftig bezahlte Sonderschichten schieben zu müssen. Allein im Pandemiejahr 2020, das sollte alarmieren, haben Beschäftigte in Deutschland 1,67 Milliarden Überstunden geleistet. Mehr als die Hälfte davon blieb unbezahlt.

Dieser Zustand ist umso beklagenswerter, als viele Menschen gesundheitlich leiden unter der hohen Belastung. Zahlreiche Studien haben das erwiesen. Sie entwickeln Schlafprobleme, Essstörungen, Burn-out-Syndrome, Depressionen und schlimmstenfalls Herzerkrankungen. Auch die Pandemie hat bereits ihre Spuren hinterlassen. Besonders im Home-Office fällt es Beschäftigten schwer, eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen. Sie schmeißen den Haushalt, erziehen Kinder und setzen sich nachts noch an den Schreibtisch, um E-Mails zu schreiben. Ehe sie Schwäche zeigen, opfern sie ihre kostbare Freizeit. Notfalls auch ohne Bezahlung.

Es wäre ein fatales Signal, das Arbeitszeitgesetz zu lockern. Nur Arbeitgebern würde das nutzen

Es wäre höchste Zeit, dass der Staat Arbeitgeber in die Pflicht nimmt und Arbeitnehmer besser schützt - auch vor sich selbst. Er sollte die Vorgaben des EuGH endlich umsetzen und ein praktikables Arbeitszeiterfassungsgesetz etablieren. Doch es steht zu befürchten, dass die politisch Verantwortlichen weiterhin keine Initiative ergreifen. Die FDP will das geltende Arbeitszeitgesetz lockern. Sie will die maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden zwar beibehalten, doch die täglichen Arbeitszeiten sollen erhöht werden können. Diese Haltung schlägt sich im Sondierungspapier mit SPD und Grünen nieder. Von einer umfassenden Dokumentation der Arbeitszeit, wie sie der EuGH fordert, ist darin keine Rede. Stattdessen heißt es, man wolle die "begrenzte Möglichkeit" schaffen, von den bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes abzuweichen hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit.

Solch flexible Arbeitszeiten können Vorteile bringen, keine Frage. In der modernen Arbeitswelt bietet sich individuelle Freiheit in vielen Berufen an. Beschäftigte, die abends noch eine E-Mail schreiben oder an einzelnen Tagen 13 statt der maximal erlaubten zehn Stunden arbeiten wollen, verstießen dann nicht mehr gegen Gesetze. Und dennoch wäre es ein fatales Signal, das Arbeitszeitgesetz zu lockern. Man würde damit unzulässige Überstunden legalisieren und die Überlastung der Menschen billigend in Kauf nehmen. Die großen Nutznießer wären einzig die Arbeitgeber.

Sie profitieren, wenn die täglich erlaubte Arbeitszeit erhöht wird und die vom EuGH gebotene Zeiterfassung ausbleibt. Rasch würde sich eine gefährliche Toleranz einstellen. Zwölf-Stunden-Arbeitstage wären nicht nur normal, sie würden insgeheim auch erwartet. Anstatt Angestellte vor Überstunden zu schützen, würde der Druck weiter wachsen. Gerade erst hat eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung gezeigt, dass Beschäftigte in Betrieben ohne Zeiterfassung deutlich mehr Überstunden im Home-Office leisten.

Glaubt man Forscherinnen und Arbeitspsychologen, so ist es übrigens ohnehin nicht effektiv, neun, zehn oder noch mehr Stunden am Stück zu arbeiten. Die Leistung und Konzentration lassen nach. Es muss also auch keiner Angst haben, sollte die Zeiterfassung endlich kommen. Sie macht die Arbeitswelt nur transparenter und auch gerechter.

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