Übergewicht:Wer hat Angst vorm dicken Mensch?

Übergewichtige schaden weder der Krankenkasse noch der Volkswirtschaft - auch wenn der Staat es ihnen einreden will.

Friedrich Schorb

Friedrich Schorb, 30, ist Soziologe am Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen. Er las 2004 "Die Dickmacher" von Renate Künast - und ärgerte sich. Seitdem forscht er zu dem Thema.

Übergewicht: Übergewicht: "Schon jetzt leiden dicke Menschen stärker unter gesellschaftlicher Diskriminierung als unter den Folgen ihrer 'Krankheit'."

Übergewicht: "Schon jetzt leiden dicke Menschen stärker unter gesellschaftlicher Diskriminierung als unter den Folgen ihrer 'Krankheit'."

(Foto: Foto: dpa)

Dass massenhaftes Übergewicht, zumal bei Kindern, ein neues, ja hochaktuelles Phänomen ist - die Debatte im Zuge der zweiten "Nationalen Verzehrsstudie" legt diesen Eindruck nahe. Doch der Schein trügt: "Im Durchschnitt muss in der Bundesrepublik bei gut 20 Prozent der Kinder mit einer Überernährung gerechnet werden." - "Das Idealgewicht muss bei Erwachsenen als Ausnahme bezeichnet werden." Diese Zitate entstammen nicht der neuen Verzehrsstudie, sondern dem Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung - aus dem Jahr 1976.

Tatsächlich hat sich weniger das Problem selbst, als vielmehr die Rhetorik im Kampf gegen Fettleibigkeit in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Adipositas, also Fettsucht, gilt mittlerweile als Epidemie. Und zwar weltweit. So bezeichnete der ehemalige Leiter der US-Gesundheitsbehörde, Richard Carmona, im Frühjahr 2006 die dicken Bäuche seiner Landsleute als "Terror im Inneren", der selbst den 11. September in den Schatten stelle. Der britische Gesundheitsminister Alan Johnson wählte einen anderen Vergleich: Das zunehmende Übergewicht sei für das öffentliche Gesundheitssystem das, was der Klimawandel für die Umwelt bedeute.

Ein Programm Orwellschen Ausmaßes

Wer möchte es da dem kleinen Neuseeland verübeln, dass es sich vor solchen Gefahren schützen will. Als erstes Land der Welt untersagt der Inselstaat seit Ende 2007 übergewichtigen Einwanderungswilligen die Einreise. In Großbritannien verabschiedete die Regierung im Januar ein Programm Orwellschen Ausmaßes, um des Problems Herr zu werden.

Zur Rettung des Sozialstaats und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist unter anderem vorgesehen, Familien, in denen abweichende Essgewohnheiten praktiziert werden, frühzeitig zu identifizieren und von Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes aufsuchen zu lassen. In der Schule sollen Kochkurse und gesunde Gemeinschaftsverpflegung die Kinder vor Fehlernährung und Übergewicht schützen. Auf Einsicht allein verlässt man sich nicht: Eine Art "Pausenbrotaufsicht" überwacht künftig in britischen Schulen das mitgebrachte Frühstück. Um den Fast-Food-Konsum auch in der Freizeit einzudämmen, wird ein Verbot solcher Lokale in der Nähe von Schulen und Parks erwogen. Die Erwachsenen schließlich, die bereits dick sind, sollen für erfolgreiche Abnehmbemühungen mit Geld belohnt werden.

Unheilvolles Motto

Die Bundesregierung sieht von vergleichbaren Schritten noch ab. Der im Mai 2007 verabschiedete Nationale Aktionsplan im Kampf gegen das Übergewicht - unter dem unheilvollen Motto "Fit statt Fett" - verzichtete auf ein "Olympia der Verbote" (Verbraucherschutzminister Horst Seehofer). Es fragt sich, wie lange noch. Denn auch hierzulande werden eine sinkende Lebenserwartung, explodierende Kosten im Gesundheitswesen und ein Rückgang der wirtschaftlichen Produktivität immer häufiger mit Übergewichtigkeit und Fettsucht in Verbindung gebracht. Dass diese Behauptung keiner empirischen Überprüfung standhält, wird dabei mit umso schrillerer Rhetorik überspielt.

Wer hat Angst vorm dicken Mensch?

Zwar sind die Kosten für "ernährungsmitbedingte Krankheiten" nach Angaben der Bundesregierung in den zurückliegenden dreißig Jahren von zwei auf drei Prozent des Bruttoinlandproduktes gestiegen. Für die Behauptung einer "Kostenexplosion" ist das aber zu wenig, denn als "ernährungsmitbedingte Krankheiten" werden unter anderem Beschwerden wie Gicht, Diabetes, Karies, Osteoporose und diverse Krebsarten geführt, die sich schwerlich allein auf ein paar zusätzliche Pfunde zurückführen lassen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt trotz der angeblichen Fettsucht-Epidemie kontinuierlich an - derzeit um etwa zweieinhalb Jahre pro Dekade. Und was die Sorge um einen möglichen Rückgang der wirtschaftlichen Produktivität angeht: Seit Bestehen der Bundesrepublik war der Krankenstand zu keiner Zeit so niedrig wie heute.

Zu wenig Kinder - und die auch noch zu dick!

Das Interesse der Politik am Bauchumfang der Bürger kann sich folglich nicht allein auf ökonomische und medizinische Fakten berufen. Vielmehr bietet die Diskussion um die überflüssigen Pfunde - ebenso wie die um den ausbleibenden Nachwuchs der Staatsbürger - eine willkommene, einfache Erklärung für den Rückbau des Sozialstaates. Zu wenig Kinder und die auch noch zu dick: Kein Wunder, dass der Staat nicht länger in der Lage ist, die Risikolagen Krankheit und Alter abzusichern.

Dies mag zunächst logisch klingen, ist es aber nicht: Eine Ökonomie, in der immer weniger Menschen - weitgehend ohne den Einsatz von Körperkraft - immer mehr produzieren, ist nicht darauf angewiesen, mehrheitlich aus jungen Menschen zu bestehen, die Säbelzahntigern davonlaufen könnten. Das Unbehagen über die "Bäuche, die sich in unseren Alltag drängen" (Seehofers Vorgängerin Renate Künast), hat aber auch kulturgeschichtliche Gründe. Dicksein mag als unästhetisch gelten, vor allem aber gilt es als unnatürlich.

"Unsere Vorfahren retteten ihre Seele, wir unsere Figur"

Der dicke Mensch steht sinnbildlich für die Entfremdung des Homo Sapiens von seiner evolutionären Bestimmung als Jäger und Sammler. Übergewicht, so das Credo der Fettbekämpfer, ist die Rache der Natur für ein Leben im Überfluss, das dem Menschen nicht vorbestimmt ist. Allein durch Askese könne der Urzustand wiederhergestellt werden. Gesundheit werde in säkularisierten Gesellschaften zunehmend zur Ersatzreligion, sagt der Mediziner und Theologe Manfred Lütz: "Alles, was man früher für den lieben Gott tat - wallfahren, fasten, gute Werke vollbringen -, tut man heute für seine Gesundheit. Unsere Vorfahren retteten ihre Seele, wir unsere Figur." Für diejenigen, die sich dieser Form der Askese nicht unterziehen wollen oder können, ist dieser Diskurs fatal. Schon jetzt leiden dicke Menschen stärker unter gesellschaftlicher Diskriminierung als unter den Folgen ihrer "Krankheit".

Mit einer Intensivierung des gegenwärtigen Kreuzzugs gegen Fette ist den Übergewichtigen jedenfalls nicht geholfen. Eher schon mit einer Abkehr von der Devise "Fit statt Fett", der falschen Alternative. "Fit und Fett oder gesund und rund" - so sollte das Motto künftiger Gesundheitskampagnen lauten. Denn körperliche Bewegung, gesunde Ernährung und Übergewicht müssen sich keinesfalls ausschließen. Ein solches Motto entspräche zudem der Realität einer Gesellschaft, in der niemand mehr tagsüber Mammuts jagen muss, um sich abends ein Steak gönnen zu können.

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