Twitter:Hungerkur

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Das soziale Netzwerk Twitter ist ein Übernahme-Kandidat, und die einzige offene Frage lautet: Wie weit muss der Kurs der Aktie noch fallen, bis der erste Käufer zuschlägt?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat kürzlich eine interessante Studie vorgelegt, derzufolge sich Twitter ganz hervorragend dazu eignet, die kommenden 24 Stunden an amerikanischen Börsen vorherzusagen. Der Kurznachrichtendienst als Kristallkugel für kurzfristige Kursbewegungen, das klingt verlockend - und es gilt auch für das Unternehmen selbst. Die Einträge zu Twitter selbst in der vergangenen Woche waren derart verheerend, dass wohl jeder der weltweit 304 Millionen Nutzer ahnen konnte, dass die Aktie des Unternehmens gewaltig abstürzen würde. Prompt erreichte das Unternehmen am Dienstag mit 29,11 Dollar pro Stück einen historischen Tiefstand und wurde den ganzen Tag unter 30 Dollar gehandelt. Twitter wird demnach mit weniger als 20 Milliarden Dollar bewertet.

Es brauchte aber auch keine seherischen Fähigkeiten, um diesen Einbruch vorherzusagen. Zunächst wurden die Abgänge bedeutender Manager bekannt, nach Chef Dick Costolo zum 1. Juli gingen in der vergangenen Woche Business Developer Christian Oestlien (zu Youtube) und Produktchef Todd Jackson (zu Dropbox), Trevor O'Brien, der für alle Twitter-Apps verantwortlich war, verließ Twitter mit unbekanntem Ziel.

Das wirkte schon ein wenig wie das Verlassen eines Schiffes in Seenot, doch es kam noch schlimmer: Gründer und Interims-Chef Jack Dorsey erklärte trotz anständiger Quartalszahlen (der Umsatz stieg um 64 Prozent auf 504 Millionen Dollar), dass es Twitter in den unsteten Gewässern der sozialen Netzwerke weiter sehr schwer haben werde: "Menschen in aller Welt kennen Twitter, aber es ist nicht klar, warum sie Twitter nutzen sollten. Das ist inakzeptabel."

Die Liste möglicher Käufer liest sich wie eine Aufzählung der Tech-Platzhirsche

Die Selbstkasteiung des dem Größenwahn nicht abgeneigten Dorsey kam an wie eine Abkehr vom üblichen Silicon- Valley-Optimismus mit den Alles-wird-gut-Beteuerungen. Es könnte jedoch auch Kalkül dahinterstecken. "Die Aussagen könnten absichtlich gemacht worden sein, um den Kurs nach unten zu drücken - weil sie vorhaben, das Unternehmen zu verkaufen", sagt Jeff Sica, Chef der Investmentfirma Sica Wealth Management: "Ich glaube, dass der Zeitpunkt für eine Übernahme gekommen ist." Die Gerüchte sind nicht neu, die Liste der kolportierten Interessenten liest sich mittlerweile wie eine Aufzählung der Tech-Platzhirsche: Facebook, Microsoft, Apple, Amazon, Cisco.

Twitters Konkurrenten: Kaufen, statt selber machen

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(Foto: SZ-Grafik)

Der Internetkonzern Google gilt als besonders interessiert daran, Twitter zu übernehmen. Denn obwohl es der Firma nicht an Geld fehlt, hat sie es bisher nicht geschafft, ein eigenes soziales Netzwerk aufzubauen, das es mit Facebook aufnehmen könnte. Vor Kurzem erst gestand das Unternehmen aus Mountain View indirekt ein, dass auch der jüngste und mit viel Aplomb gestartete Versuch, genannt Google+, gescheitert ist. Es war nicht der erste. Google Buzz etwa sollte 2009 ein Konkurrent für Twitter werden, nach eineinhalb Jahren war Schluss. Mit Wave wollte Google ebenfalls 2009 eine Verbindung schaffen zwischen E-Mail und Echtzeit-Zusammenarbeit, doch nach einem guten Jahr beschloss die Konzernleitung, das Projekt nicht weiterzuentwickeln, 2012 wurde es endgültig aus dem Netz genommen. Groß geschadet hat das Google bisher nicht, man sagt dort: "Wirf deine Spaghetti an die Wand und sieh, welche kleben bleiben." Solange das Geschäft mit Werbung im Netz weiter so gut läuft, kann es so weitergehen.

Bedrohliche Luftnummer

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(Foto: SZ-Grafik)

Kommt das Internet bald angeflogen? Mark Zuckerberg, dem Chef des größten sozialen Netzwerks der Welt, Facebook, ist es offenbar ziemlich ernst damit, unterentwickelte Gegenden der Welt via Drohnen ans Internet anzuschließen. Mit der Folge, dass "Internet" für diese digitalen Neuländer ziemlich gleichbedeutend mit Facebook wäre. Das muss man nicht zwingend mögen, wie man überhaupt das Netzwerk nicht mögen muss. Aber für die Aktien des Unternehmens, das die Kunden besser kennt als diese sich selbst, wäre es ein Schub, wenn das Projekt tatsächlich - wie sagt man? - abheben würde. Zuckerberg und sein Team haben es bisher gut geschafft, so hart an der Grenze der Zumutung zu lavieren, dass die Nutzer dem Netzwerk treu blieben. Immer wieder mal gab es Ärger wegen plötzlich geänderter Nutzungs- und Datenschutzbestimmungen. Viele Jüngere haben Facebook zwar den Rücken gekehrt, aber es gibt viele, die noch keinem sozialen Netzwerk angehören. Die Aktie jedenfalls ist seit Jahren im Steigflug.

Suche nach der verlorenen Zeit

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(Foto: SZ-Grafik)

Was Facebook noch werden will, so etwas wie ein Synonym fürs Web, das war Yahoo schon einmal. Der hierarchische Katalog, den das Unternehmen mühevoll aufgebaut hatte und pflegte, war für viele der Einstieg in eine Suche im Internet. Doch dann kam Google und erfand eine viel bessere Methode, im Netz zu suchen. Und Yahoo wurde abgehängt. Es folgte der Versuch, sich als sogenanntes Portal zu etablieren - als Seite also, die man täglich ansurft, weil es dort wie in einem Mega-Supermarkt alles gibt. Mail, Online-Terminplaner, Nachrichten und vieles mehr. Die Internetnutzer bevorzugten die schlanke, schnell ladende Seite von Google und schätzten die hohe Qualität der Suche dort. Yahoo ist aber noch immer ein mächtiges Unternehmen, viele populäre Angebote, die unter eigenem Namen auftreten, gehören zu Yahoo. So etwa das Fotoportal Flickr oder der Blog-Service Tumblr. Seit gut drei Jahren ist die frühere "Miss Google" Marissa Mayer Chefin von Yahoo, durchschlagenden Erfolg hatte sie bisher nicht.

Als Kandidat mit dem größten Interesse gilt Google. Das Unternehmen kooperiert bereits seit Februar mit Twitter und musste kürzlich eine sündteure Schlappe mit dem eigenen sozialen Netzwerk "Google+" vermelden. Google braucht eine soziale Vernetzung der einzelnen Angebote und Zugang zu Echtzeitdaten - beides könnte Twitter liefern. Zudem verfügt Google über Finanzreserven von geschätzten 70 Milliarden Dollar, um sich eine Übernahme leisten zu können. Ein gefälschter Medienbericht vor drei Wochen, der die Übernahme von Twitter durch Google verkündete, sorgte jedenfalls für Aufregung an der Börse, die Twitter-Aktie stieg um acht Prozent. Das Eingeständnis des Scheiterns von Google+ befeuert die Spekulationen über das mögliche Interesse an Twitter.

Als weiteres Indiz für eine mögliche Übernahme gilt, dass Twitter nach dem Abgang von Costolo noch immer keinen Nachfolger präsentiert hat. Dorsey, 38, gibt derzeit den temporären Teilzeitchef, er bereitet nebenbei den Börsengang der von ihm gegründeten Digital-Payment-Firma Square vor. Freilich hält sich Dorsey - wieder ganz im Größenwahn-Modus - für geeignet, zwei Unternehmen gleichzeitig erfolgreich zu führen. Diese Meinung indes hat er beinahe exklusiv.

Die verheerenden Prognosen Dorseys werden deshalb nicht als Einladung an einen möglichen Nachfolger gesehen, die nach unten korrigierten Erwartungen zu übertreffen - sondern vielmehr als Abschreckung möglicher Interessenten interpretiert. Erst Ende September soll ein neuer Geschäftsführer präsentiert werden, was die Spekulationen zusätzlich befeuerte: Dorsey soll das Schiff steuern, bis es geentert wird, der neue Besitzer soll dann selbst über einen geeigneten Kapitän entscheiden, der nach Dorseys Dafürhalten freilich Jack Dorsey heißen muss.

Der Kurznachrichtendienst Twitter läuft auf vielen Endgeräten, im Umfeld der sozialen Netzwerke Geld zu verdienen, fällt dem Unternehmen aber schwer. (Foto: David Paul Morris/Bloomberg)

20 Milliarden Dollar für eine Firma, die laut Dorsey sowohl Fenster zur Welt als auch globales Mikrofon sein soll und vor weniger als 19 Monaten noch mit 45 Milliarden Dollar bewertet worden ist, das klingt nach einem Schnäppchen für interessierte Investoren - und doch gilt Twitter noch immer als viel zu teuer für viele Kandidaten. "Alles über zehn Milliarden Dollar ist eine immense Investition und sorgt bei vielen Anlegern für Aufregung. Das wäre selbst für Google eine gewaltige Übernahme", sagt Eric Johnson von der Analysefirma Ironfire Capital. Er schätzt, dass die Bewertung von Twitter auf zehn Milliarden Dollar fallen müsse, damit das Unternehmen interessant sei.

Andere Schätzungen gehen von einem Wertverfall auf 15 Milliarden aus, mit dieser Summe wird Konkurrent Snapchat seit der letzten Investorenrunde bewertet. Es gibt aber auch Prognosen, dass die Twitter-Aktie auf bis zu sechs Dollar fallen und das Unternehmen dann nur noch vier Milliarden Dollar wert sein wird. Die Gerüchte um eine Übernahme drehen sich deshalb derzeit weniger darum, ob Twitter verkauft wird, sondern darum, wie weit die Bewertung noch sinken muss, damit es so weit ist. Diese magische Zahl kennt niemand. Vielleicht sollte man die Tweets studieren.

© SZ vom 06.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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