Twitter nach Musks Massenentlassungen:"Böse Akteure haben ein neues Werkzeug"

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Tabula rasa bei Twitter unter Elon Musk. Mitarbeitende und Experten fürchten durch den massiven Stellenabbau die Möglichkeit für koordinierte Desinformationskampagnen. (Foto: Patrick Pleul/AP)

Nach dem Personalabbau fürchten Mitarbeitende und Experten die Anfälligkeit der Plattform für Desinformationen - ausgerechnet vor den US-amerikanischen Zwischenwahlen. Musk droht derweil abtrünnigen Werbekunden.

Elon Musks breit angelegte Kürzungen bei Twitter Inc. führen dazu, dass aktuelle und ehemalige Mitarbeiter sowie Informationsexperten sich fragen, ob das soziale Netzwerk noch über die Ressourcen verfügt, um wichtige Systeme wie die Inhaltsmoderation effektiv am Laufen zu halten -insbesondere vor und während der US-Zwischenwahlen am kommenden Dienstag. Das berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg.

Musk hat am Donnerstag und Freitag mehr als die Hälfte der Mitarbeiter entlassen, wovon fast alle Teams des Unternehmens betroffen waren. Medienberichten zufolge wurden die Produkt- und Ingenieurteams um weit mehr als 50 Prozent entkernt, und andere Gruppen - wie Kommunikation, Marketing, Menschenrechte und Vielfalt - wurden fast vollständig gestrichen. Diejenigen, die plötzlich keinen Zugang mehr zu E-Mail und Slack hatten, mussten sich verzweifelt in externen Signal- und Chat-Gruppen informieren, um herauszufinden, wer noch beschäftigt war. "Es ist wie ein Feuer", berichtete ein ehemaliger Mitarbeiter. "Die Leute suchen nach Überlebenden."

Die drastische Reduzierung des Personals des Unternehmens hat aber auch die Aufmerksamkeit von Twitter-Insidern, externen Gruppen und Beobachtern der Desinformation auf sich gezogen, die sagen, dass es unklar ist, wie Twitter sein weitläufiges Netzwerk, das einen überragenden Einfluss auf die globale politische und kulturelle Konversation hat, künftig mit weit weniger Leuten verwalten wird.

Twitter sei nun anfällig für koordinierte Desinformationskampagnen, so eine Expertin

Twitter ist seit langem ein wichtiges Instrument für die Verfolgung von Nachrichten während der Wahlen, da es oft der erste Ort ist, an dem Informationen gemeldet werden, bevor sie im Fernsehen oder in anderen sozialen Netzwerken auftauchen. Jetzt sei der Kurznachrichtendienst "massiv gestört" und anfällig für Probleme in Momenten mit hohem Verkehrsaufkommen oder für koordinierte Desinformationskampagnen, sagt Kate Starbird, außerordentliche Professorin an der University of Washington und Mitbegründerin des Center for an Informed Public. "Einige der Methoden, mit denen die Plattform gestern funktionierte, werden heute, morgen und bei der Wahl am Dienstag nicht mehr funktionieren."

Das Team von Twitter, das den Kontext für aktuelle Themen erstellte und mit Mediengruppen zusammenarbeitete, um Inhalte zu veröffentlichen, die wichtige Nachrichtenereignisse auf ihre Richtigkeit hin überprüfte, wurde aufgelöst, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Das Team für Rechtspolitik, das Inhalte auf der Grundlage von Regierungs- und Rechtsanfragen entfernt und Anfragen der Strafverfolgungsbehörden nach Nutzerdaten prüft, wurde nach Angaben einer mit der Angelegenheit vertrauten Person "massiv beschnitten". Das Kommunikationsteam bei Twitter, das für die Zusammenarbeit mit Journalisten und die Herausgabe von Pressemitteilungen zuständig ist, wurde von fast 100 auf zwei Mitarbeiter reduziert, heißt es aus informierten Kreisen weiter. Das Team, das Beziehungen zu prominenten Nutzern wie Sportlern, Schauspielern und Musikern aufbaut und pflegt, sei fast vollständig gestrichen worden.

Bezahlen statt Kontrolle

Ein weiterer Grund für die Spannungen wegen der fehlenden Kontrolle der Inhalte ist Musks Plan, von Montag an jedem die Möglichkeit zu geben, für ein Verifizierungszeichen bei Twitter zu bezahlen. Dies ist Teil einer neuen Initiative, die darauf abzielt, die Einnahmen durch Abonnements für Twitter Blue, das Premiumprodukt, zu steigern. Wenn es wie geplant eingeführt wird, würde dies bedeuten, dass jeder acht Dollar bezahlen kann, um sein Konto legitimer aussehen zu lassen, was das Risiko erhöht, dass man sich als Kandidat oder Regierungsbehörde ausgibt.

"Die Kombination aus massiven Entlassungen und dem Ende der verifizierten Nutzer weniger als eine Woche vor den US-Wahlen schafft eine brennbare Situation, die jederzeit in Flammen aufgehen könnte", sagt Melissa Ryan, Geschäftsführerin von Card Strategies, einem Beratungsunternehmen, das sich mit Desinformation beschäftigt. "Böse Akteure haben ein neues Werkzeug, um Desinformationen zu verbreiten, Schaden anzurichten und Chaos zu verursachen". Twitter fehlten jetzt die Kapazitäten und das institutionelle Gedächtnis, um mit diesen Problemen umzugehen, so Ryan.

"Thermonukleares Benennen und Schämen"

Musk droht derweil Werbekunden, die keine Anzeigen mehr bei Twitter mehr schalten, öffentlich bloßzustellen. Der neue Twitter-Besitzer reagierte mit seinem Tweet in der Nacht zum Samstag auf den Vorschlag eines rechten Lobbyisten, er solle die Werbekunden benennen, "damit wir sie mit einem Gegenboykott belegen können". Musk schrieb in seiner Antwort: "Danke. Ein thermonukleares Benennen und Schämen ist exakt das, was passieren wird, wenn das nicht aufhört."

In den vergangenen Tagen hatten unter anderem die Volkswagen-Gruppe, der Pharmakonzern Pfizer und der Lebensmittelriese Mondelez angekündigt, Werbung bei Twitter aussetzen zu wollen. Dass Firmen sich darüber sorgen, dass ihre Anzeigen neben negativen Inhalten auftauchen könnten, ist kein neues Phänomen. Auch etwa Googles Videotochter YouTube hatte bereits damit zu kämpfen. Musk hatte solche Sorgen selbst mit häufiger Kritik ausgelöst, Twitter habe zu sehr die Redefreiheit eingeschränkt. Vergangene Woche versuchte er dann, Werbekunden mit einem offenen Brief zu beruhigen: Twitter werde kein Ort sein, an dem man sich ohne Konsequenzen alles erlauben könne. Auch jetzt betont er, dass sich an den Inhalte-Regeln der Plattform bislang nichts verändert habe. Einige Werbekunden halten sich trotzdem zurück.

Musk beklagte sich am Freitag über einen "massiven Umsatzeinbruch" und machte dafür "Aktivistengruppen" verantwortlich, die Druck auf die Unternehmen ausübten. Diese nicht näher umschriebenen Aktivisten versuchten, "die Redefreiheit in Amerika zu zerstören". Der rechte Internet-Lobbyist Mike Davis schlug daraufhin bei Twitter ein Gegenboykott der Werbekunden vor, die sich solchem Druck beugten. Davis wettert in mehreren Organisationen unter anderem gegen die "Cancel-Kultur" und will Internet-Konzerne für die angebliche Unterdrückung konservativer Ansichten zur Verantwortung ziehen.

© SZ/bloomberg/dpa/cjk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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