Süddeutsche Zeitung

Social Media:Traumjob Twitter-Profi

Kein Trump, kein Problem: Twitter hat sich selbst neu erfunden und kommt gut ohne den US-Präsidenten aus. Nun sollen Nutzer sogar Geld verdienen können.

Von Simon Hurtz, Berlin

Twitter kostet kein Geld. Diese simple Tatsache hat sich vor vielen Jahren in ein beliebtes Meme verwandelt. Menschen teilen auf Twitter Screenshots besonders lustiger oder bereichernder Tweets. "This Website is free", schreiben sie darüber, anscheinend ungläubig, dass sie für dieses großartige Unterhaltungsprogramm tatsächlich nicht mit Geld, sondern nur mit ihren Daten und ihrer Aufmerksamkeit bezahlen müssen.

Das wird sich bald ändern. Bei einer virtuellen Veranstaltung für Investorinnen und Investoren hat Twitter etliche neue Funktionen angekündigt. Dazu zählt unter anderem "Super Follows". Wer glaubt, dass seine Witze, Scoops und Kommentare mehr wert sind als ein paar Likes und Retweets, kann versuchen, damit Geld zu verdienen. Follower müssen dann zahlen, um weiter mitlesen zu können.

Das ist weniger aussichtslos, als es klingt. Denn gerade in den USA haben viele Accounts Millionen Fans. Wenn nur ein Bruchteil davon bereit ist, ein Abo abzuschließen, wird daraus schnell ein lukratives Geschäftsmodell. Zudem ist Twitter längst mehr als lauwarme Witzchen in 280 Zeichen. Man kann etwa Dutzende Tweets in sogenannten Threads aneinanderreihen und politische Ereignisse analysieren. Andere verbreiten dort exklusive Neuigkeiten oder sind, auch das gibt es, tatsächlich lustig.

Twitter will Frauen vor verbaler Gewalt schützen

Manche Journalistinnen und Journalisten träumen bereits jetzt davon, wie es wäre, von den eigenen Tweets leben zu können. Doch das ist nur eine von vielen geplanten Neuerungen. Zudem will es Twitter Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, sich in abgeschlossenen Gruppen zu organisieren und über bestimmte Themen zu unterhalten. Das erinnert an Facebooks Gruppenfunktion, die nicht nur das größte soziale Netzwerk, sondern die gesamte Kommunikation im Netz grundlegend verändert hat: Der Newsfeed verliert an Bedeutung, Unterhaltungen verlagern sich in geschlossene Räume.

Seit mehr als einem Jahrzehnt scheitert Twitter daran, vor allem Frauen vor Belästigungen und Bedrohungen zu schützen. Das soll sich endlich ändern: Der sogenannte Sicherheitsmodus erkennt, wenn Nutzerinnen und Nutzer in kurzer Zeit viele Antworten oder Nachrichten erhalten, die Twitter als aggressiv oder beleidigend einstuft. Diese Accounts werden dann automatisch blockiert oder stummgeschaltet, sodass der Hass die Zielpersonen erst gar nicht erreicht.

Dorsey bot Trump die Stirn

Die jüngsten Ankündigungen passen zu Twitters neuem Selbstverständnis. Einst war das Unternehmen der Möchtegern-Herausforderer von Facebook, der hilflos dabei zusah, wie der große blaue Bruder Whatsapp und Instagram schluckte und zur wichtigsten Kommunikationsinfrastruktur der Welt wurde. Facebook expandierte, Twitter stagnierte. Doch im vergangenen Jahr hat die Plattform sich selbst neu erfunden - politisch und funktionell.

Während Mark Zuckerberg lange Zeit auf einen Kuschelkurs mit Donald Trump setzte, wagte Twitter-Chef Jack Dorsey die Konfrontation mit dem US-Präsidenten. Das Unternehmen kennzeichnete Trumps Lügen und löschte seine Aufrufe zur Gewalt. Die Botschaft war klar: Trump mag unser wichtigster Nutzer sein, aber unsere Regeln gelten für alle. Das verärgerte viele Republikaner, verschaffte Twitter aber Respekt bei Menschen, die nicht glauben, dass Trump das Grundrecht auf ein virtuelles Megamikrofon besitzt.

Die Plattform entwickelte sich auch technisch weiter. Mit Kayvon Beykpour kam 2018 nicht nur ein neuer Produktchef, sondern auch ein neues Entwicklungstempo. Im Monatstakt verkündete Twitter neue Funktionen und Zukäufe. Mit Spaces befindet sich etwa ein aussichtsreicher Clubhouse-Klon in der Betaphase und soll bald starten. Kürzlich schluckte das Unternehmen den Newsletter-Anbieter Revue und könnte damit der E-Mail-Plattform Substack Konkurrenz machen - und Facebook, das ebenfalls an einer Newsletter-Funktion arbeitet.

In Tweets die Welt erklären - und davon leben

Den meisten Menschen in Deutschland ist Twitter trotzdem herzlich egal. Sie nahmen die Plattform nur wahr, wenn Donald Trump mal wieder besonders großen Unsinn in die Welt setzte. Aber der hat im Januar sowohl sein Amt als auch seinen Twitter-Account verloren. Was in den Augen vieler bleibt, ist eine Blase, in der die Berlin-Mitte-Bohème ihre Clubhouse-Talks ankündigt oder Journalistinnen und Journalisten Insider-Witze in "So lacht das Netz über"-Artikel verwandeln.

Doch Twitter generiert Schlagzeilen, die über Trump hinausgehen. Nach dem Rauswurf des größten Provokateurs blieb die Nutzung konstant. Politikerinnen und Prominente äußern sich dort, viele Nachrichten beruhen auf Tweets. Menschen, die sonst selten in den Medien zu Wort kommen, können auf Twitter ihre Sichtweise schildern. Die Plattform wird nie so groß wie Facebook, so hip wie Instagram oder so kreativ wie Tiktok werden. Doch genau wie Snapchat hat Twitter seine Nische gefunden, die immerhin ein paar Hundert Millionen Menschen umfasst. Und vielleicht wird es bald auch die ersten Twitter-Profis geben, die sich dafür bezahlen lassen, in 280 Zeichen die Welt zu erklären.

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