Süddeutsche Zeitung

Twitch:Und die Welt schaut zu

In der flirrenden Eile des Internets sticht Twitch durch erstaunliche Gelassenheit hervor. Über Stunden wird dort live übertragen. Und längst geht es dort nicht mehr nur ums Gaming.

Von Hans von der Hagen

Wenn Olga Scheps sich in den kleinen fensterlosen Raum mit dem Steinway zurückzieht, ist nichts, wie es einmal war. Zwei Kameras stehen dort nun neben dem Flügel. Die eine streamt live ins Internet, wenn sie spielt, die andere stellt Scheps an, wenn sie mit den Zuschauern aus aller Welt chattet.

Die 35-Jährige zählt zu Deutschlands bekanntesten Pianistinnen. Das bedeutet normalerweise: große Auftritte. Und: viele mühevolle Tage. Denn ihre Arbeit findet vor allem hinter den Kulissen statt. "Man sitzt jeden Tag stundenlang alleine rum. Und wenn dabei tolle Dinge entstehen, kann man sie nicht wirklich mit jemandem teilen. Musik ist doch Austausch", sagt sie.

Kaum stellt sie die Kameras an, erscheinen auch schon die ersten Nachrichten auf dem Bildschirm: "Hallo liebe Olga, wie geht es Dir?", schreibt einer in den Chat. Statt zu üben, gerät Scheps nun erst mal ins Plaudern. Es kann dann übers Essen gehen, über Reisen, Beziehungen - was man sich eben so erzählt.

"Es ist dort immer etwas los"

Im Oktober 2019 ging es bei ihr los. Sie selbst hatte öfters mit Freunden auf Twitch die Livestreams anderer angeschaut, es lag also nahe, es einfach mal selbst zu probieren. Anfangs schaute kaum jemand zu, manchmal nur fünf Leute. Heute hat Scheps 3000 Follower und live sind oft 70 bis 80 Menschen aus fast allen Kontinenten und jeden Alters dabei. Ihren Auftritt nennt sie eine Art Olga TV. Sie mag das. Scheps sagt: "Es ist dort immer etwas los."

Das stimmt natürlich. Auf Twitch ist immer etwas los und das auf eine besondere Art: Dominieren bei den Videos auf Youtube und Instagram glanzvolle Bilder und schnelle Schnitte, erfreut man sich bei Twitch an einer gewissen Gelassenheit. Liveübertragungen können sich oft über Stunden hinziehen, die Streamenden verschwinden zwischendurch auch gerne mal, mitunter schaut man minutenlang in leere Räume.

Ausdauernd zu senden - das steckt in der DNA der Seite, entstand doch Twitch 2011 als eine Ausgründung von Justin.tv. Justin.tv wiederum war das Ergebnis eines Experiments des Studenten Justin Kan: Über Monate hatte er seinen Alltag mit Hilfe einer am Kopf angebrachten Kamera gestreamt. Vermutlich hätte dieses Experiment keinen sonderlich interessiert, wenn er nicht in dieser Zeit gemeinsam mit dem Reddit-Mitgründer Steve Huffman verhaftet worden wäre. Das sorgte für ein gewisses Raunen und Justin.tv kam in Schwung. Plötzlich konnte jeder über die Plattform streamen. Doch nach ein paar Jahren war das ausgereizt, das Leben der anderen war eben nur bedingt interessant. Auffallend gut aber liefen die Live-Übertragungen von Computerspielen - aus diesem Bereich entstand Twitch.tv. 2014 übernahm es Amazon für 970 Millionen Dollar.

Heute ist Twitch ein Unternehmen mit 1800 Mitarbeitern. Im Schnitt schauen sich zu jedem Zeitpunkt rund drei Millionen Menschen an, was auf den Kanälen läuft. Im Februar 2020, kurz bevor die Corona-Krise ihren ersten Höhepunkt erreichte, lag die Zahl noch bei 1,4 Millionen. Die Bilder von schwerbewaffneten Kriegern und glutäugigen Monstern auf der Einstiegsseite zeigen, dass Twitch zuallererst immer die Heimat der Gamer ist - bei manchen Streams gehen die Zuschauerzahlen da in die Hunderttausende.

Thrillmodus eigener Art

Doch auch die übrigen Bereiche haben sich in den vergangenen drei Jahren vervierfacht, sagt eine Twitch-Sprecherin. Und so ist Twitch längst auch Kulturzentrum, Bauernhof, Verkaufsraum, Sporthalle, Partykeller. An der einen Stelle streamen Jazzgrößen wie Larry Goldings, an anderer verfolgen Dutzende Zuschauer über Stunden, wie Eike Töpperwien unter dem Aliasnamen Landwirts_kleine_Farm Eier sammelt oder auf dem Trecker durch den Schnee tuckert.

Was macht die Livestreams für die Zuschauer so interessant? Andreas Ziemann, Mediensoziologe an der Universität Weimar, vermutet: Zum einen sei da der Thrillmodus von Twitch. Live bedeutet eben immer, dass etwas Unerwartetes passieren kann. Aber Angebote wie dieses eröffneten eben auch die Möglichkeit, sich individuell ein Fernsehen zusammenzustellen, das nicht nur eine gewisse Exklusivität besitze, sondern auch durch den praktisch immer dazugehörenden Chat beeinflusst werden könne und so eine soziale Komponente habe. Die Livestreams seien eine Einladung, an den Erfahrungen und dem Wissen anderer teilzuhaben, sagt Ziemann.

So sieht auch Scheps ihre Auftritte: "Ich wurde oft gefragt, wie ich mir ein Stück erarbeite, wie ich übe und mich vorbereite", sagt sie. Die Antworten erhält man nun live im Stream. Im Chat gehe es aber auch um die verschiedenen Interpretationen eines Stücks - "wir hören gemeinsam Aufnahmen und schauen Videos". Manche ließen aber auch einfach den Stream im Hintergrund laufen. Das sei dann so, als würde nebenan jemand Klavier üben, sagt Scheps.

Große Unterschiede zwischen Youtube, Instagram und Twitch

Für andere ist Twitch Basis eines Geschäftsmodells. Sei es, dass sie als erfolgreiche Gamer einen großen Kreis von Abonnenten aufgebaut haben und damit prächtig verdienen, sei es, dass sie mit Hilfe der Livestreams ihr Unternehmen positionieren.

So wie Thomas Kehl. Schon während des Studiums hatte er zusammen mit einem Freund Youtube-Videos gedreht, im Sommer 2019 dann gab er seinen Job bei einer Investmentbank auf und gründete in Berlin die Firma Finanzfluss. Kehl und seine mittlerweile elf Mitarbeiter veröffentlichen nun auf professioneller Basis auf Youtube Videos, in denen etwa erklärt wird, wie Aktien oder ETFs funktionieren.

Als im März 2020 die Finanzmärkte aufgrund der sich zuspitzenden Corona-Krise einbrachen, hatten ihre Nutzer aber plötzlich so viele Fragen, dass Kehl auf die Idee kam, live zu senden. Zunächst probierten die Finanzfluss-Leute das auf Instagram aus, doch die Chats dort wurden bald von Nachrichten falscher User-Accounts überschwemmt. Auf der hibbeligen Youtube-Plattform hingegen erwarteten die Zuschauer, dass auch live immer etwas passieren sollte, was sehr viel Vorbereitung erforderte. So landete Kehl schließlich beim entspannten Twitch. Dort läuft es gut: Zuletzt streamten sie mit vier Moderatoren und mehr als 2000 Zuschauern über viele Stunden. Vor wenigen Monaten schauten gerade mal 300 Leute zu. Die Corona-Zeit habe seinem Unternehmen einen unglaublichen Schub verpasst, sagt Kehl.

Geld verdienen sie dabei vor allem mit Provisionen - wenn Zuschauer etwa über ihre Seiten Depots eröffnen. Daneben gibt es Geld für Abonnements und Werbung. Kehl bemerkt bei seiner Arbeit große Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Plattformen: Das Publikum auf Twitch sei erheblich jünger. Er fühle sich da in die frühen Jahre von Youtube zurückversetzt - in die Zeit, also nur die Geeks bei Youtube waren - diejenigen, die sich im Internet bestens auskennen.

Männliche Zuschauer sind in der Überzahl

So ähnlich sei es heute bei Twitch. Einige seiner Zuschauer hätten im Januar bei dem Gamestop-Aktienhype mitgemacht. "Der spielerische Trieb zeigt sich da auch im Anlageverhalten", sagt Kehl. Für die Auftritte bei Twitch bereiten sich Kehl und seine Mitarbeiter mittlerweile weit weniger akribisch vor als in den ersten Monaten - die Inhalte der Sendung generierten sich vor allem aus dem Chat heraus. Aus dem Präsentieren ist ein Moderieren geworden. Bei Youtube erwarteten die Nutzer sehr viel Hintergrundwissen, bei Instagram wiederum reichten die Basics im Sinne von: "Hey, fang mal an zu sparen, probier mal einen Sparplan aus."

Auf allen Plattformen seien die Männer deutlich in der Überzahl - vor allem wohl bei Twitch. Bei Instagram liege der Anteil der Frauen bei 26 Prozent, auf Youtube bei zwölf Prozent. Kehl hat auch schon einen Auftritt bei der Liveplattform Clubhouse probiert. Aber das war ganz anders. "Noch ist das eher eine B2B-Plattform", sagte er, also von Unternehmen für Unternehmen.

Fast wie ein richtiges Konzert

Für die Pianistin Scheps sind die Auftritte bei Twitch auch Motivation. Sie helfen ihr, in der konzertlosen Corona-Zeit nach einem festen Zeitplan zu üben. Manchmal aber strengt es sie auch an, dass die Kamera ständig läuft. Und manchmal bringt es einen Kick: Kurz vor Weihnachten hatte sie in ihrem Proberaum das erste Streaming-Konzert, Wochen zuvor schon angekündigt. "Ich war an dem Tag genauso voller Adrenalin und Aufregung wie bei einem echten Konzert", sagt sie. Die Twitch-Community bedankte sich mit einem riesigen Blumenstrauß, den sie über einen Freund Scheps direkt in den Proberaum schickte. Als sie später mit den Blumen nach Hause ging, hat es sich für sie angefühlt wie nach einem richtigen Konzert.

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