Das Drama der türkischen Geldpolitik nimmt kein Ende. Am Donnerstag senkte die Zentralbank TCMB in Ankara den Leitzins erneut, um einen Prozentpunkt auf nunmehr 14 Prozent. Und dies, obwohl die Inflation in dem Land inzwischen galoppiert. Die Rate der Geldentwertung liegt offiziell bei 21 Prozent - nun dürfte sie schnell weitersteigen. Die Investoren an den Devisenmärkten hatten die Entscheidung bereits vorweggenommen und große Mengen türkischer Lira verkauft. Allein am Donnerstag verlor die Währung nochmals fast vier Prozent. Bei einem Dollarkurs von 15,48 Lira ist die Währung so billig wie noch nie. Ein Euro kostete 17,24 Lira. Seit Jahresbeginn hat die Währung fast die Hälfte ihres Wertes verloren.
Eigentlich wäre angesichts der Wirtschaftslage des Landes das genaue Gegenteil notwendig gewesen: Zinserhöhungen, um die Inflation zu zähmen. Dass die Zentralbank anders entschieden hat, ist Teil der unkonventionellen Geldpolitik, die ihr Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufzwingt. Bereits im September hatte die TCMB zum Entsetzen fast aller Ökonomen den Leitzins von 19 auf 15 Prozent gesenkt. Kredite wurden billiger, die Inflation beschleunigte sich, wie zu erwarten, und der Kurs der Lira stürzte ab. Die Rating-Agentur Fitch schätzt, dass die Geldentwertung in diesem Monat sogar noch die Marke von 25 Prozent erreichen könnte.
Problematisch ist dabei nicht nur die ungewöhnliche Entscheidung selbst, sondern auch die Tatsache, dass Erdoğan direkt in die Zentralbank hineinregiert. Deren derzeitiger Chef Şahap Kavcıoğlu trägt Erdoğans Kurs zwar mit, das heißt aber nicht viel. Kavcıoğlu ist der vierte Präsident der Währungsbehörde seit 2019. Seine drei Vorgänger hatte Erdoğan allesamt entlassen, weil sie sich seiner Politik widersetzt hatten. Dass Kavcıoğlu dem Staatschef nun gehorcht, erhöht nicht unbedingt sein Ansehen.
Auch Finanzminister Lütfi Elvan musste Anfang Dezember gehen, er wollte die Geldpolitik des Staatschefs ebenfalls nicht länger mitverantworten. Sein Nachfolger Nureddin Nebati preist die neue Politik dafür in den höchsten Tönen: "Die Wirtschaftslage wird sich sehr schnell bessern", sagte er noch am vorigen Montag. Nebati ist kaum der Mann, sich der eigenwilligen Politik des Staatschefs zu widersetzen. "Ich werde niemals etwas tun, was sich gegen Tayyip Erdoğan richtet", sagte er. "Das sollte jeder zur Kenntnis nehmen." Am Donnerstag entließ Erdoğan überdies zwei Staatssekretäre aus dem Finanzministerium. Die Personalie wurde wenige Stunden vor dem Zinsentscheid der Notenbank bekannt.
Erdoğans unorthodoxe Geldtheorie halten die meisten Ökonomen schlicht für abenteuerlich. Nach dieser Theorie leisten hohe Leitzinsen der Inflation Vorschub, weil ja Zinsen Kosten sind. Um diese "Zinsplage" zu lindern, sei eine betont lockere Geldpolitik nötig, argumentiert Erdoğan - genau so wie an diesem Donnerstag und im September praktiziert. Man müsse die Bürger von der Zinslast befreien, so der Präsident: "Solange ich im Amt bin, werde ich immer gegen Zinsen kämpfen." Erdoğan spricht von einem "wirtschaftlichen Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieg", den das Land führen müsse.
Billiges Geld, und die Wirtschaft wächst
Jenseits dieser sonderbaren Begründung könnte den Präsidenten zumindest ein nachvollziehbares Kalkül antreiben. Wenn die Währung an Wert verliert, wird es günstiger, in der Türkei zu produzieren. Das nützt türkischen Exporteuren und könnte mehr Investoren und Touristen aus dem Ausland locken. Tatsächlich ist die türkische Wirtschaft zuletzt trotz Pandemie erstaunlich schnell gewachsen. Im Krisenjahr 2020 legte die Wirtschaftsleistung um zwei Prozent zu (die deutsche Wirtschaft schrumpfte im selben Zeitraum um 4,8 Prozent). In diesem Jahr könnten es nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) sechs Prozent werden; die Ökonomen von Goldman Sachs halten sogar zehn Prozent für möglich (2022 sollen es dann 3,5 Prozent sein). Das außerordentliche Wachstum ist vor allem einer Schwemme billiger Kredite zu danken. Die Kreditzinsen liegen in der Türkei weit unter der Rate der Geldentwertung. Investoren lockt die Aussicht, dass die Schulden dann, wenn sie zurückgezahlt werden müssen, einen großen Teil ihres Wertes verloren haben werden.
Man kann Erdoğans Kurs daher als eine Art Wette deuten. Darauf, dass sich mittels einer Geldschwemme ausreichend Wirtschaftswachstum generieren lässt, ohne dass dadurch die Inflation außer Kontrolle gerät und die Währung kollabiert. Solange jedenfalls, bis der Präsident sich im Sommer 2023 den Wählern stellen muss. Es sieht allerdings so aus, als sei er gerade dabei, diese Wette zu verlieren.
Die Mieten steigen viel schneller als die Einkommen
So nimmt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung rapide zu. Nach Medienberichten sind auch viele Anhänger Erdoğans wegen der gestiegenen Kosten für die Lebenshaltung aufgebracht. Kein Wunder, die Folgen der Politik - ständig steigende Preise und Währungsverfall - prägen zunehmend den Alltag der Normalbürger. Einen Eindruck davon bekommt, wer durch die Supermärkte Istanbuls zieht. Wegen der Inflation geben manche Läden Grundnahrungsmittel wie Zucker, Milch und Speiseöl bereits nur noch in begrenzten Mengen ab, berichten türkische Medien. Angeblich, um Hamsterkäufen vorzubeugen, vielleicht aber auch nur, um durch eigentlich verbotene Rationierung selbst von der rasanten Inflation zu profitieren.
Der tiefe Stand der türkischen Währung ist immer präsent. Man muss nur einen Blick auf die Anzeigetafeln der Wechselstuben entlang der berühmten Einkaufsstraße İstiklal werfen. Der Euro steht inzwischen bei mehr als 17, der Dollar bei mehr als 15 Lira. Vor wenigen Monaten noch galten neun Lira für den Dollar als die magische Marke, dann zehn. Hart ist die Lage auch für viele Mieter: Die Mieten steigen viel schneller als die Einkommen.
Inzwischen kommt es auch immer wieder zu Demonstrationen gegen die Regierung. In der Metropole Istanbul gingen am vorigen Sonntag nach Angaben der Veranstalter Tausende auf die Straße. Die Demonstrierenden versammelten sich im asiatischen Teil der Stadt und hielten Schilder hoch mit der Aufschrift: "Es reicht!" Die linke Gewerkschaft Disk hatte zu dem Protest aufgerufen. Um seine Anhänger zu beruhigen, verkündete der Präsident am Donnerstag eine Erhöhung des Mindestlohns um fast 1000 Lira im Monat.
An den internationalen Finanzmärkten nehmen die Sorgen wegen der Türkei weiter zu. Die Rating-Agentur Standard & Poor's senkte ihren Ausblick auf die Bonität türkischer Anleihen von "stabil" auf "negativ". In den vergangenen Wochen hat die Notenbank mehrmals Dollar und Euro verkauft, um die Lira zu stützen, was immer nur kurzfristig genützt hat. Sie kann diese Praxis auch nicht mehr sehr oft wiederholen, weil ihre Bestände an Dollar und Euro schwinden. Zieht man die Verbindlichkeiten ab, sind die Währungsreserven der Türkei heute schon negativ, schätzen Ökonomen. Die Auslandsverschuldung ist binnen eines Jahres von 40 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen.
Das wäre für sich genommen noch erträglich, hätten die Finanzmärkte denn Vertrauen in die türkische Politik. Haben sie aber nicht. "Das Problem liegt darin, dass die Notenbank jede Glaubwürdigkeit verloren hat," sagt Tatha Ghose, Analyst für die Commerzbank in London. "Irgendwann wird die weiche Lira die Zahlungsbilanz so belasten, dass das Experiment scheitert und eine Zinserhöhung unabwendbar wird." Aber auch das werde an den Finanzmärkten nur vorübergehend für Ruhe sorgen. Nötig sei eine Kehrtwende in der gesamten Geldpolitik. Mit anderen Worten: Die Geldpolitik muss wieder orthodox werden - mit einer Notenbank, die tatsächlich unabhängig ist und in deren Politik der Präsident nicht mehr hineinregieren kann.
Ähnlich sieht es Clemens Grafe, Ökonom bei Goldman Sachs in London. Die Türkei habe kein Überschuldungsproblem. "Das Problem ist der Vertrauensverlust der Türken in die Lira, die im Extremfall zu finanzieller Instabilität führen kann." Da die Schulden in Dollar, Euro und andern Währungen von türkischen Banken gehalten werden, könne Liquidität knapp werden. Die türkische Zentralbank könne Vertrauen nur dadurch zurückgewinnen, "dass sie über einen längeren Zeitraum die Zinsen höher hält, als es der Wirtschaftszyklus normalerweise verlangen würde". Aller Voraussicht nach werde dies dann aber zu einer Rezession führen.
Und auch das gehört zum Bild: Angesichts der schwachen Lira haben die Investitionen von Ausländern in den türkischen Immobilienmarkt zugenommen. Im November seien in der Türkei mehr als 7000 Häuser an Ausländer verkauft worden und damit 48,4 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum, teilte das Statistikamt in Ankara mit. Im Vergleich zum Vormonat Oktober lag der Anstieg bei 25 Prozent. Am meisten investierten demnach Iraner, Iraker und Russen in den türkischen Immobilienmarkt. Deutsche folgten auf dem vierten Platz.