Süddeutsche Zeitung

Türkei:Gier, die tötet

Berufstätige leben in der Türkei gefährlicher als in anderen Ländern: 1730 Menschen starben allein im vorigen Jahr bei der Arbeit. Ein Besuch bei Hinterbliebenen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Die Mahnwache beginnt mit einer stillen Choreografie. Auf große Pappen gedruckte Fotos werden wie Memory-Karten ausgelegt. Jedes zeigt einen toten Menschen. Dazu sein Name, der Ort des Unglücks und sein Todestag. 19 Schicksale nebeneinander, in vier Reihen. Nur in der untersten, da bleibt ein Platz frei. Es ist eine Reihe, die nie zu einem Ende kommt.

Diese Reihe liegt aus an einem Ort, der nie zur Ruhe kommt. Die Istiklal-Caddesi ist die Konsummeile Istanbuls. Die Straße vibriert bis spät in die Nacht, sieben Tage die Woche. Die Istiklal-Caddesi ist ein gigantischer Marktplatz - auch wenn man nur Wehklagen loswerden will über die Menschen, die ihr Leben bei ihrer Arbeit verloren haben.

Es ist der erste Sonntag im Monat. Vor dem Galatasaray-Gymnasium versammeln sich die Angehörigen derer, die nicht mehr leben. Weil andere ihren Job nicht gemacht haben. "Wir möchten Euch willkommen heißen im Namen der Arbeiterfamilien, die Gerechtigkeit suchen", sagt Sema Erdem Tunay. Die Frau ist 35 Jahre alt. Die hellbraune Fleece-Jacke, die sie trägt, gehörte ihrer Schwester Selin. Deren Foto liegt in der obersten Reihe, Nummer 16.

"Erst wenn es in eurer Familie passiert, werdet ihr begreifen."

Dies ist die Geschichte von erschreckender Gleichgültigkeit und Unbelehrbarkeit. Jeder hier kann sie erzählen. Sema Erdem Tunay, die ihre Schwester verloren hat. Oder Erdinç Eroğlu, 50, dieses Treffen ist auch eine Trauerfeier für seinen Sohn Eren. Vier Plätze neben ihm sitzt Berrin Demir. Sie ist 52, Anwältin. Sie hat sich immer die Horrorgeschichten der anderen angehört. Nun hat sie ihre eigene. Ihre Cousins sind tot.

Jeden Tag sterben Menschen bei der Arbeit. Überall auf der Welt. In den Statistiken sind 2,3 Millionen Opfer erfasst. Arbeit kann dreckig sein, Arbeit kann töten. Man verdrängt das gerne in Deutschland, wo die Arbeitswelt in der Regel grell ausgeleuchtet und klinisch rein ist. Und trotzdem kamen im vorletzten Jahr auch in der Bundesrepublik 483 Menschen bei der Arbeit ums Leben. "Ein Menschenleben zählt in der Türkei einfach nichts", sagt Sema Erdem Tunay. "Die Verantwortlichen werden nicht zur Rechenschaft gezogen", sagt Erdinç Eroğlu. "Es ist die Gier, die bei uns Menschenleben kostet", sagt Berrin Demir. In der Türkei - und dafür stehen die Schicksale dieser drei Menschen - geht es um etwas anderes.

Sie haben lernen müssen, dass Menschen hier kein kostbares Gut sind. Staatspräsident Recep Erdoğan will sein Land bis 2023, zum hundertsten Geburtstag der Republik, unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Erde führen. An der Skyline von Istanbul, die Jahr für Jahr um ein paar Hochhäuser reicher wird, kann man seinen Ehrgeiz ablesen. Er hat die Türkei in eine Baustelle verwandelt. Und auf der sterben dreimal so viele Menschen bei der Arbeit wie in Deutschland. Allein im Jahr 2015 waren es etwa 1730. Es sind zu viele Tote, als dass die Türken von Unfällen sprechen wollen. Die Trauergemeinde am Galatasaray-Gymnasium sagt dazu: Arbeitsmorde.

Selin Erdem stirbt am Tag der Arbeit, es ist der 1. Mai 2012. Die 27-Jährige hat einen Job beim Film, sie liebte diese Glitzerwelt. Die Serie, die in einer Schule gedreht wird, heißt "Die Hinterbänkler". Der Tag nimmt kein Ende. Selin, die Assistentin, die sich mal um die Maske, mal um die Kulisse kümmert, hat ein paar Minuten Pause. Aber einen Pausenraum für die Filmcrew spart sich die Produktionsfirma. Selin Erdem geht nach draußen und setzt sich zum Essen auf den Bürgersteig.

Der Fahrer der Catering-Firma muss sie übersehen haben. Er ist auch viel zu schnell unterwegs. Kurz darauf bekommt ihre Schwester einen Anruf vom Set. Die Maskenbildnerin ist am Telefon. "Es ist etwas Schlimmes passiert." Später, vor Gericht, stellt sich heraus, dass der Fahrer, ein pensionierter 60 Jahre alter Teezubereiter, sechs Jahre lang kein Auto gelenkt hatte. Versichert war er auch nicht.

Sema Erdem Tunay zieht die Jacke ihrer Schwester beim Gespräch nicht aus. Auch später nicht, neben einem warmen Ofen. Sie könne diese Jacke nicht ausziehen, sagt sie. Nicht jetzt. Sonst fresse der Kummer sie auf. Und die Wut.

Eine kleine, kalte Drei-Zimmer-Wohnung im Istanbuler Textilviertel Zeytinburnu. Erdinç Eroğlu räumt den Ordner mit den Gerichtsunterlagen vom Wohnzimmertisch. Es ist dunkel geworden. Seine Frau kommt bald von der Arbeit nach Hause. Sie könne es nicht ertragen, dass er keine Ruhe gibt. Sie geht vor dem Zubettgehen am Foto ihres Sohnes Eren vorbei, das an der Wand neben dem Fernseher hängt. Es zeigt einen großen 16-Jährigen im Polo-Shirt. Sie streichelt mit der Hand drüber. Das sei ihre Art zu trauern, erzählt er.

Es ist der 30. Oktober 2013, spät am Abend. Der Vater hat gekocht. "Papa, niemand auf der Welt macht den Spinat so gut wie du." Erdinç Eroğlu hat ein paar Minuten mit seinem Sohn. Sie essen zusammen. Die Mutter arbeitet noch im Atelier und näht T-Shirts zusammen. Davon lebt die Familie. Am nächsten Tag geht Eren um 7.30 Uhr aus dem Haus.

Eren verdient sein erstes eigenes Geld. Für die Werbefirma TDS bringt er Reklame an. 1000 Lira Lohn im Monat bekommt er dafür, gut 300 Euro. An diesem Tag soll das private Doğa-Krankenhaus neue Buchstaben an der Fassade bekommen. Mit seinem Kollegen Haydar klettert er aufs Dach des kleineren Nebengebäudes, um von dort aus an die Fassade zu gelangen. Sie ziehen eine Leiter auseinander. In diesem Moment trifft sie der Schlag. In nur zweieinhalb Metern über dem Dach verlaufen zwei 154 Kilovolt-Starkstromleitungen, die Istanbul mit Elektrizität versorgen. Eren ist tot, sein Kollege schwer verletzt. Den Gesetzen zufolge hätten zwischen Dach und Kabel fünf Meter Abstand sein müssen.

Ein Geschäftshaus mitten in Istanbul. Wie oft hat Anwältin Berrin Demir diesen Satz gehört und ihn doch nicht verstanden: "Ihr werdet erst begreifen, wenn es in eurer Familie passiert." Am 13. Mai 2014 sterben beim schwersten Grubenunglück der Türkei in Soma 301 Menschen. Unter den Toten sind auch Sadik Akdağ und Ismet Yılmaz. Ihre Cousins.

Jetzt begreift sie.

Gegen 15 Uhr am Unglückstag explodiert ein Trafo. Danach bricht ein Feuer aus, das kilometertief unter der Erde eine Katastrophe auslöst. Berrin Demir ist in Istanbul, als sie von dem Unglück erfährt. Sie versucht ihre Tante zu erreichen. Sie will wissen, ob auch ihre Cousins im Stollen eingeschlossen sind. Es dauert zwei Tage, bis sie die Nachricht erhält, dass die beiden Männer tot sind. Ihre Leichen werden in einem Honigmelonen-Depot aufgebahrt. Erdoğan, damals Regierungschef, reist an den Unglücksort. Nach seinem Besuch ist der Schmerz nur noch schlimmer. Er sagt in Soma, das Unglück sei Schicksal.

Schicksal?

Die Ermittlungen ergeben ein anderes Bild. Die Kohlenmonoxid-Konzentration war viel zu hoch in der Grube. Die Arbeiten hätten viel früher gestoppt werden müssen. Sensoren schlugen an, aber die Warnungen wurden ignoriert. Es gab keine Rettungsräume für die Bergleute. Die Gasmasken hielten höchstens 45 Minuten durch. Inspekteure schauten weg.

Ismet Yılmaz hatte immer Angst, dass etwas passiert. "Irgendwann werden wir unten begraben werden", habe er Berrin Demir lange vor der Katastrophe seine Angst gestanden. Ismet war Meister. 1500 Lira Gehalt habe er im Monat bekommen, 500 Euro. Aber nur, wenn er 30 Tage im Monat in die Grube einfuhr. Einen Tag zu fehlen, habe bedeutet, für zwei Tage keinen Lohn zu bekommen. "Dort herrschten Bedingungen wie im Mittelalter", sagt die Anwältin.

Der Istanbuler Verein 1Umut - eine Hoffnung - kümmert sich um die Zurückgebliebenen. Er bringt auch jedes Jahr einen Almanach hinaus, ein dickes Buch über alle Arbeitsunfälle, von denen die Ehrenamtlichen erfahren haben. Es ist eine Dokumentation über die dunkle Seite des türkischen Wirtschaftswunders, das über Jahre hinweg mit Wachstumsraten von um die fünf Prozent im Durchschnitt beeindruckt hat.

Über die Kosten reden nur die Trauernden. Bei der Mahnwache in der Istiklal-Caddesi trägt Sema Erdem Tunay gerade die schaurige Bilanz für das Jahr 2015 vor. Sie erzählt von Fällen, die erst nach Jahren vor Gericht kamen, von freigesprochenen Firmenchefs und Baustellen-Inspektoren. Sie erzählt von Fällen, die bei der nächsthöheren Instanz liegen, weil Richter meinten, keine Schuld entdecken zu können.

Wer bei dieser Demonstration dabei ist, müsste niedergeschlagen nach Hause gehen. So viel hört man über den tagtäglichen Wahnsinn auf türkischen Baustellen, aus türkischen Unternehmen. Sema Erdem Tunay sagt: Wer mitgemacht habe, was sie erleben musste, der fühle sich allein. "Hier treffen sich diese Menschen, wenn sie mal eine Umarmung brauchen."

Nicht einmal zehn Prozent der Arbeiter in der Türkei sind gewerkschaftlich organisiert. Selbst das ist Erdoğan zu viel. Demos zum 1. Mai dürfen nicht auf zentralen Plätzen wie dem Istanbuler Taksim stattfinden. Auf dem Bau, neben dem Konsum die Säule des Wirtschaftswunders, kommen besonders viele Menschen um.

"Meine Eltern sagen: Gott wollte das so. Ich glaube das nicht. Ich will Antworten."

Murat Deha Boduroğlu ist einer der Anwälte, die über den Verein 1Umut den Hinterbliebenen helfen, ohne dafür Geld zu nehmen. "Die meisten Menschen haben keine Hoffnung, dass es eine gerechte Strafe gibt. Dass die Firmen machen könnten, was sie wollten, liege an der Verwaltung. Kontrollen? Inspekteure? Davor müssen sich viele Unternehmer nicht fürchten. Und die Bürokraten, die ihren Job nicht machten, müssten auch keine Angst haben. "Die werden in der Regel nicht angeklagt", sagt der Anwalt. Im türkischen Strafrecht gebe es Gesetze, die Beamten faktisch eine Art Immunität zubilligten. "Solange kein hoher Beamter vor Gericht steht, wird das so weitergehen. Es fehlt ein Exempel." In den Firmen wird die Verantwortung solange nach unten geschoben, bis einer sie nicht weiter durchreichen kann. Das ist dann meist der Subunternehmer. Am Ende trifft es den Schwächsten.

Im Fall von Sema Erdem Tunays Schwester stand drei Tage nach dem Unglück die Anklageschrift gegen den Unfallfahrer. Bald darauf das Urteil: Vier Jahre Haft für den Autofahrer. Von der Filmfirma musste sich niemand vor Gericht verantworten. "Es wird in einem Schulgebäude gedreht und es soll keinen Platz für einen Pausenraum geben?" Die Schwester zweifelt. Sie geht oft mit den Eltern zum Grab. "Meine Eltern sagen: Gott wollte es so. Ich glaube das nicht. Ich will Antworten. Und Gerechtigkeit."

Ein Besuch im Krankenhaus, auf dessen Dach Eren Eroğlu starb. Die neue Werbung hängt immer noch nicht. Im Erdgeschoss hängt das Besprechungszimmer voller Qualitätszertifikate. Hier sitzt Klinikchef Nabi Kırmızı, ein Mann um die fünfzig. Er trägt das Hemd oben offen, lässiger Auftritt. Für Eroğlus Tod und die anderen Arbeitsunfällen hat er einen Kommentar übrig, der wie die Urkunden hinter ihm auch gerahmt gehört, weil er so bitter ist: "Das ist das Schicksal der unterentwickelten Gesellschaft."

Jedenfalls kümmert das Stromkabel über dem Krankenhausdach bis heute niemanden. Die Stromleitung ist immer noch da. Aber das Krankenhaus müsste hier nicht sein. Wenn man Kırmızı die Frage stellt, was eine Klinik direkt unter einer Stromleitung zu suchen hat, schaut er, als ob er die Frage nicht verstanden hätte. "Das ist eine traurige Geschichte. Wir haben Anträge gestellt, weil das Kabel eine Gefahr darstellt." Das war's. Im Prozess werden die Hauptschuldigen bei der Werbefirma gesucht, die die beiden Männer aufs Dach schickte. Der Beamte, der ein Krankenhaus unter einer Starkstromleitung genehmigte, muss nicht vor Gericht.

Erens Vater Erdinç hatte mit dem Richter gestritten. Der nahm ihn beiseite und fragte, warum er so hartnäckig dieses Verfahren wolle - es bringe ihm seinen Sohn nicht zurück. "Ist dieser Prozess denn so wichtig? Das ist doch kein politischer Prozess?", erinnert sich Eroğlu an die Worte des Richters. Er antwortete: "Er ist noch viel wichtiger." Der Vater sagt: "Mehr als 1700 Tote durch Arbeitsunfälle in einem Jahr. Wenn man das auf Jahre hochrechnet, dann ist das doch ein Krieg, oder?"

Der Prozess zum Grubenunglück von Soma läuft seit ein paar Monaten. Berrin Demir sagt, dass die Akten, die Beamte betreffen, aussortiert worden seien. Fast alle Beschuldigten versuchen die Verantwortung für die Katastrophe auf einen Ingenieur abzuwälzen, der beim Unglück ums Leben kam. Der ehemalige Geschäftsführer ließ seinen Anwalt vortragen, er sei weder Ingenieur, noch Techniker oder Experte für Sicherheit am Arbeitsplatz - und deshalb nicht verantwortlich.

Berrin Demir macht das wütend: Die Firma verspreche, sich um all jene großzügig zu kümmern, die keinen Ärger machten. Es geht um Entschädigungen, es geht um Jobs in einer Region, in der es außer der Mine keinen wirklich großen Arbeitgeber gibt. Das versteht man in der Türkei unter Schadensregulierung.

Zurück in der Istiklal Caddesi, bei der Mahnwache. Selin Erdem Tunay schmiegt sich in die Jacke. Sie sagt: "Ich konnte ein Jahr das Haus nicht verlassen." Nur zu den Prozesstagen zwang sie sich raus. Bei den Eroğlus hat die Tochter vor ein paar Monaten geheiratet. "Wir kommen langsam wieder zu uns", sagt der Vater. Aber Erens Kinderzimmer sieht noch so aus wie an dem Tag, als er das letzte Mal zur Arbeit ging. Berrin Demir sagt, dass sie sich manchmal vor Kummer kaum konzentrieren könne.

Für alle hat sich das Leben verändert.

Direkt neben der Mahnwache wird ein Geschäftshaus saniert. Es ist bis oben hin eingehüllt. Die Presslufthämmer dröhnen. Die Kräne drehen sich wie ein Uhrwerk.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2016
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