Türkei:Erdoğan steigt auf, die Türkei steigt ab

Turkish President Erdogan addresses during an attempted coup in Istanbul

Der Aufstieg des türkischen Präsidenten war auch mit seiner Wirtschaftspolitik verbunden. Doch die Zeiten des Aufschwungs sind vorbei.

(Foto: REUTERS)

Den Präsidenten interessiert gerade nur eines: seine Macht. Der wirtschaftliche Aufschwung ist Geschichte. Im Land herrscht ein Klima der Angst.

Von Mike Szymanski

Der politische Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğan und seiner islamisch-konservativen AKP ist mit einem bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung für die Türkei verbunden gewesen. Die ersten Jahre unter Erdoğan waren golden: Bald gab es "anatolische Tiger" zu bewundern, graue Provinzhauptstädte im Hinterland, in denen nun auch das große Geschäft gemacht wurde. Erdoğans Regierung sanierte die Banken, er lockte ausländische Investoren, er pumpte Milliarden in die Infrastruktur.

Der heutige Staatspräsident erfand mit seinen Megaprojekten wie dem Bosporus-Tunnel oder dem im Bau befindlichen dritten Flughafen in Istanbul ein neues Narrativ für seine Türkei als Wirtschaftswunderland. Jenseits seines Gigantismus fand die Türkei die ersehnte politische Stabilität. All dies: Vergangenheit.

Erdoğans Aufstieg und das Wachstum des Landes haben sich voneinander entkoppelt - mit schwerwiegenden Folgen für die Türkei. Politisch steht der Staatspräsident vor dem Höhepunkt seiner Macht. Wirtschaftlich geht es der Türkei aber so schlecht wie lange nicht mehr.

Erdoğan strebt den Wechsel vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem an, formal kürt er sich damit zum Alleinherrscher. Faktisch regiert er heute schon so. In diesen Tagen berät das Parlament über die dafür nötigen Verfassungsänderungen. Die Märkte honorieren die Entwicklung nicht. Der machttrunkene Erdoğan scheint ihnen unheimlich geworden zu sein.

Am Mittwoch wurden an den Wechselstuben für einen Euro vier türkische Lira ausbezahlt. Die Landeswährung steht seit Monaten unter Druck und verliert an Wert. Und immer dann besonders, wenn Erdoğan seinem Machtziel ein Stück näher kommt. In einem Jahr hat die Währung etwa 20 Prozent an Wert verloren, aller hastig eingeleiteten Gegenmaßnahmen zum Trotz. Am Dienstag erst hatte die Notenbank etwa 1,4 Milliarden Euro ins Finanzsystem gepumpt.

Im Land herrscht ein Klima der Angst

Die Wirtschaft hat kein Problem damit, sich mit autokratischen Herrschern zu arrangieren. Beispiele dafür gibt es genug. Das Problem ist ein anderes. Je autokratischer Erdoğan auftritt, desto instabiler wird seine Türkei. Im Südosten des Landes herrschen im Kampf gegen die terroristische PKK bürgerkriegsähnliche Zustände. Terror spürt die Türkei auch von anderer Seite: Der sogenannte Islamische Staat rächt sich mit Anschlägen dafür, dass Ankara im Nachbarland Syrien mit Soldaten gegen die Dschihadisten vorgeht.

Seit dem Sommer sieht sich das Land auch noch im Kampf gegen das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Einst hatte dieser Erdoğan beim Aufstieg geholfen. Dann kam es zum Bruch. Die Regierung vermutet die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch im Sommer und glaubt, sie habe den Staat unterwandert. Im Land herrscht ein Klima der Angst. Es kommt zu Massenentlassungen und Verhaftungen. Der von der Regierung verhängte Ausnahmezustand erstickt jedes Gefühl von Sicherheit. Der Tourismus liegt am Boden.

Früher hat Erdoğan der Wirtschaft gegeben, was sie braucht. Heute interessiert ihn zuvörderst sein Machtausbau. Unternehmer und Investoren haben auf ein Ende des Ausnahmezustands gehofft. Erdoğans Regierung verlängerte ihn bis April. Die Wirtschaft wartet auf eine Anhebung der Zinsen, um den Fall der Lira zu stoppen. Erdoğan macht weiterhin Druck auf die Notenbank, das Geld so billig wie möglich zu halten. Die Unternehmen wollen ein gutes und enges Verhältnis zur EU. Der Staatspräsident wiegelt die Bürger gegen die EU auf, die er nur noch für einen Zusammenschluss von Schwachen hält.

Erst seine wirtschaftlichen Versprechen machten Erdoğan wählbar

Bislang zeigte sich die Wirtschaft robuster als gedacht. Nun kommen Zweifel auf. Nicht die Opposition im Land muss er fürchten, sondern die Enttäuschten in den eigenen Reihen. Die aufziehende Wirtschaftskrise trifft seine Kernanhängerschaft. Vielen Menschen in der Türkei ging es unter Erdoğan wirtschaftlich so gut wie noch nie. Das ist einer der Gründe, warum ihm immer noch so viele Menschen die Treue halten. Politik und Wirtschaft stabilisierten früher einander, darauf gründete der Erfolg seiner Politik.

Erdoğans politischer Islam war lange Zeit zweitrangig. Für die Leute kam erst das persönliche Wohlergehen, für sie zählte das Fortkommen des Landes. Das machte Erdoğans AKP für breite Teile der Gesellschaft wählbar. Mit Erdoğan ist eine neue muslimische Mittel- und Oberschicht entstanden. Sie hat investiert, sie hat sich verschuldet. Sie ist angedockt an das weltweite Wirtschafts- und Finanzsystem. Sie hat darauf vertraut, dass es unter Erdoğan für alle immer nur aufwärts geht. Und nicht nur für einen Mann.

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