Pandemie-Bekämpfung:Patentschutz für Covid-Impfstoffe wird wohl gelockert

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WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala spricht von einem "großen Schritt vorwärts". (Foto: FABRICE COFFRINI/AFP)

EU, USA, Indien und Südafrika haben sich in dem brisanten Streit auf einen vorläufigen Kompromiss geeinigt. Wird der akzeptiert, können Hersteller in Entwicklungsländern künftig Technologie von Biontech nutzen.

Von Björn Finke, Brüssel

In der Debatte geht es um Millionen Menschenleben - und Milliarden Euro an Umsätzen. Nun, nach anderthalb Jahren, scheint eine Lösung in Sicht zu sein: Die USA, die EU, Indien und Südafrika haben sich auf einen vorläufigen Kompromiss zum Patentschutz für Covid-Impfstoffe geeinigt. Pharmahersteller in Entwicklungsländern können demnach einfacher die patentgeschützte Technologie von Unternehmen wie Biontech aus Mainz nutzen, um eigene Corona-Vakzine zu produzieren. Der Text der Erklärung, für den die EU-Kommission erst noch die Zustimmung der Mitgliedstaaten einholen muss, liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Ngozi Okonjo-Iweala, die Chefin der Welthandelsorganisation WTO in Genf, bezeichnet die Vereinbarung bereits als "großen Schritt vorwärts nach vielen Stunden langer und schwieriger Verhandlungen".

Südafrika und Indien forderten schon im Herbst 2020, den Patentschutz zeitweilig aufzuheben, um die Fertigung weltweit schnell auszuweiten und die Versorgung armer Staaten zu verbessern. Denn während reiche Länder Grundschulkinder impfen und Booster verteilen, gibt es andernorts nicht einmal genug Vakzin für alle Risikogruppen. Im vergangenen Mai verkündete die US-Regierung überraschend ihre Unterstützung für die Initiative und brachte damit die EU unter Zugzwang. Die Kommission präsentierte kurz darauf einen eigenen Vorschlag, demzufolge der Patentschutz zwar bestehen bleibt, aber andere Erleichterungen möglich sind.

Der Kompromiss, auf den sich die vier Verhandlungsparteien geeinigt haben, ist umfassender als das europäische Konzept, doch weit entfernt von den indischen und südafrikanischen Vorstellungen. So verlangten diese beiden Regierungen, den Patentschutz nicht nur für Vakzine, sondern auch für Covid-Arzneien, Tests und Schutzkleidung zu schleifen. Zudem sieht die Vereinbarung keine komplette Aufhebung des Patentschutzes vor. Diese Forderung Indiens und Südafrikas hätte bedeutet, dass jeder Pharmakonzern weltweit zum Beispiel das Vakzin produzieren darf, das Biontech entwickelt hat. Die Mainzer könnten nicht mehr wegen Patentverletzungen klagen, da es zeitweilig keinen Patentschutz gäbe.

Der EU-Vorschlag wiederum lief darauf hinaus, Zwangslizenzen zu vereinfachen: Eine Regierung, etwa in Indien, kann dann den Patentinhaber, zum Beispiel Biontech, zwingen, einem Hersteller vor Ort die Patentnutzung zu gestatten. Der Patentinhaber erhält eine kleine Entschädigung und hat so einen Anreiz, dem neuen Fabrikanten beim Hochfahren der Fertigung zu helfen. Mit diesem Aspekt wirbt die Kommission für ihre Idee; schließlich ist die Herstellung der mRNA-Vakzine kompliziert.

Eine Klausel verhindert, dass China profitiert

Bei der Welthandelsorganisation WTO regelt das sogenannte Trips-Abkommen den Umgang mit Patenten. Der Vertrag erlaubt es Regierungen schon jetzt, bei Notlagen Zwangslizenzen zu nutzen, aber die EU wollte dieses Verfahren simpler gestalten. Der vereinbarte Kompromiss geht jedoch über Zwangslizenzen hinaus. Er ermöglicht es Regierungen auch, in ihrem Land per einfachem Dekret die Nutzung patentgeschützter Impfstoff-Technologien zu gestatten, ohne dass vorher Verhandlungen mit den Patentinhabern nötig sind. Zur Höhe der Entschädigung an den Inhaber heißt es, bei deren Festlegung könnten Regierungen einfließen lassen, ob die Produktion in ihrem Land ohne Gewinnabsicht, aus rein humanitären Gründen, stattfindet. Soll bedeuten: In derartigen Fällen wäre die Entschädigung wohl sehr niedrig.

Von dieser neuen Sonderregel sollen jedoch keine Industrieländer profitieren, sondern lediglich die Regierungen von Entwicklungsländern. Eine weitere Einschränkung besagt, dass diese Länder bislang nur wenig Covid-Impfstoff exportiert haben dürfen. Diese Klausel schließt aus, dass China zu den Nutznießern gehören wird. Die Regelung soll befristet sein - entweder auf drei oder fünf Jahre; das ist bisher nicht klar. Innerhalb eines halben Jahres nach Inkrafttreten sollen die WTO-Mitglieder zudem über eine Ausweitung auf Patente für Corona-Arzneien und Tests entscheiden.

Zunächst müssen aber die USA, die EU, Indien und Südafrika den Kompromiss intern abstimmen. Der Sprecher der US-Handelsbeauftragten Katherine Tai betont, noch sei keine Vereinbarung geschlossen, doch der Kompromiss sei vielversprechend und werde nun beraten. Eine Sprecherin der EU-Kommission sagt ebenfalls, noch werde beraten - zwischen den vier Verhandlungsparteien sowie mit den EU-Mitgliedstaaten. Einigt sich das Quartett auf einen finalen Text, muss es danach die Zustimmung aller 164 WTO-Mitglieder einholen. Dies gilt allerdings als die kleinere Hürde.

Das Zögern der EU sei "ein Armutszeugnis", heißt es

Die Europaabgeordnete Anna Cavazzini begrüßt die Lockerungen beim Patentschutz. Die handelspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion nennt es aber "ein Armutszeugnis für die EU, dass es in der Pandemie so lange braucht, um diesem Vorschlag zuzustimmen". Und es sei ein Fehler, bei den Erleichterungen Arzneien außen vor zu lassen: Arme Staaten benötigten auch "Zugang zu Covid-Therapien, um Menschenleben zu retten".

Der CDU-Europaabgeordnete Sven Simon mahnt hingegen Vorsicht an. Vieles sei noch unklar, doch sollte der Kompromiss tatsächlich "eine entschädigungslose Nutzung fremden geistigen Eigentums ermöglichen, wäre das ein fatales Signal", sagt er. Impfstoffentwickler und ihre Zulieferer würden "faktisch enteignet; das Vertrauen in den globalen Patentschutz wäre nachhaltig beschädigt". Die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn warnt, es bedrohe "die Forschung für neue Impfstoffe, wenn die Produzenten ihre Vakzine nicht mehr durch Patente schützen können".

Ähnlich argumentiert Oliver Schacht vom Biotechnologieverband BIO Deutschland: Eine Aufhebung des Schutzes könne "verheerende Auswirkungen auf die Attraktivität des Biotechnologie-Standorts Deutschland haben". Und IFPMA, der weltweite Dachverband forschender Pharmakonzerne aus Genf, nennt die Debatte um Patentfreigaben "unnötige und irrelevante" Symbolpolitik.

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