Wer Zweifel daran gehabt haben sollte, wie wichtig der Fleischkonzern Tönnies für Ostwestfalen ist, wo die Firma ihren Sitz hat, der hat nun einen wissenschaftlichen Beleg dafür. Ein Gutachten von Manfred Schwaiger, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Betriebswirtschaft lehrt, bestätigt dem Konzern, wie wichtig er für die Region ist - und für Deutschland. In Auftrag gegeben hatte es Tönnies selbst, um, wie der Pressesprecher am Freitag in einer Videokonferenz sagte, nach den "Emotionen" des vergangenen Sommers die Diskussion zu versachlichen. Die Kritik an dem Schlachtkonzern war wegen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitarbeiter eskaliert, nachdem sich rund 1500 von ihnen in Rheda-Wiedenbrück mit dem Coronavirus infiziert hatten.
Schwaiger kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass Tönnies einen "beachtlichen positiven Beitrag" für Ostwestfalen leiste. "Das Geld wächst eben nicht am Baum, hier wird eine ordentliche Wertschöpfung erwirtschaftet." Der Professor und sein Team haben ausgerechnet, dass der Nutzen für die Region bei jährlich mindestens 325 Millionen Euro liege und bis zu 626 Millionen Euro reichen könne. Die aus "Spezifika" der Firma - namentlich einer überproportional hohen Zahl an Mitarbeitenden in Niedriglohnsegmenten und/oder mit Migrationshintergrund - resultierenden bewertbaren Lasten lägen höchstens bei etwa 6,5 Millionen Euro im Jahr, wovon 5,5 Millionen auf Einmalzahlungen etwa für Sprachkurse entfielen. Maximal eine Million Euro jährlich komme für "wiederkehrende Größen" hinzu, also etwa für Dolmetscherkosten.
Darüber hinaus würde dem Gutachten zufolge der Kaufkraftindex im Kreis Gütersloh ohne Tönnies von 103,4 auf 97,2 fallen und damit deutlich unter den Bundesdurchschnitt von 100. Und würden alle Waren- und Zahlungsströme der Unternehmensgruppe erfasst, so summierte sich die direkte und indirekte Wertschöpfung auf 1,5 Milliarden Euro.
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69 Seiten ist die Studie lang. So ein Gutachten mit dem Ansinnen, den "wirtschaftlichen Fußabdruck" eines Unternehmens in der Region dokumentieren zu lassen, habe er in den 22 Jahren, in denen er nun schon einen Lehrstuhl an der LMU leite, noch nie gemacht, sagte Schwaiger. Die Gewinne des Konzerns musste er dafür allerdings schätzen, ebenso die Gewerbesteuerzahlungen, denn Jahresberichte mit Gewinn- und Verlustrechnungen von Tönnies habe er für sein Gutachten nicht einsehen können. "Natürlich hätten wir dann nicht spekulieren und schätzen müssen", so Schwaiger. Auch bleibe deshalb unklar, wie viel Geld von Tönnies tatsächlich in den Wirtschaftskreislauf gelangt sei, sagt er. Als das Angebot an ihn herangetragen wurde, sei ihm aber klar gewesen, "dass wir mit einem rudimentären Datenmaterial ans Werk gehen müssen".
Für das Gutachten sei das "unschädlich". Das Ziel sei es nicht gewesen, die Unternehmensgruppe Tönnies "gläsern" zu machen. Als Kaufmann, so Schwaiger, habe er "großes Verständnis dafür, dass Clemens Tönnies seine Buchhaltung nicht offenlegen möchte". Selbst gesprochen hat er mit dem Großgesellschafter des Konzerns nicht. Die Finanzdaten stammen überwiegend aus dem Jahr 2019.
Gewerkschaften wurden nicht befragt
Auch verschiedene Stakeholder - also Personen und Gruppen, die Interesse an einem Unternehmen haben und für die es von Belang ist, wie dieses sich verhält - wurden um Stellungnahmen gebeten. Angeschrieben wurden Kommunen, die IHK Bielefeld und die Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Kreises Gütersloh Pro Wirtschaft GT, nicht aber Gewerkschaften, Organisationen wie Oxfam oder Interessenvertretungen von Landwirten. Und das, obwohl diese in erheblichem Maße von Tönnies abhängig seien, wie Schwaiger selbst sagte. "Wir haben zunächst die angeschrieben, von denen wir dachten, dass sie den besten Überblick über verursachte Lasten haben", erklärte er. Man habe nicht daran gedacht, Gewerkschaften zu befragen.
In diesem Jahr wird das Unternehmen Tönnies 50 Jahre alt. Zum neuen Image eines "Konzerns, der verantwortungsvoll Lebensmittel" herstellen will, passt nun auch die meterhohe Werbefigur auf dem Tiefkühllager am Firmensitz nicht mehr: Bulle, Kuh und Schwein sind darauf zu sehen. Sie wurde am Freitag demontiert - und kommt erst mal ins Lager.